Wenn der Zappelphilipp groß wird

ADHS – ein Syndrom, das ebenso Erwachsene betrifft

ADHS ist eine Störung, deren Beginn vor dem siebten Lebensjahr liegt. Bis vor wenigen Jahrzehnten galt sie daher ausschließlich als Erkrankung des Kindes- und Jugendalters.

Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass sich diese Störung nicht, wie ursprünglich angenommen, bei allen Erkrankten „verwächst“ – bei nahezu der Hälfte der Patienten weist das ADHS einen chronischen Verlauf. Dies kann in anhaltenden Einschränkungen in der beruflichen und privaten Lebensführung resultieren, was auch im klinischen Alltag der Männersprechstunde im Zentrum für Psychiatrie Cham beobachtet werden kann. Viele der Betroffenen wissen noch nicht mal, dass sie an ADHS leiden und erhalten die Diagnose erst verspätet im Erwachsenenalter.

Der Symptomkomplex

“Zerstreut, vergesslich, flüchtig, wie ich war, blieb nichts bei mir haften, alles verflüchtigte sich.” Das Zitat des Arztes Dr. Heinrich Hoffmann, der auch als Autor des berühmten Werkes „Der Struwwelpeter“ bekannt ist, beschreibt hier Symptome, an denen viele ADHS-Patient:innen leiden. 

Die Symptomatik der ADHS ist nicht stetig, sondern kann sich über den Krankheitsverlauf im Beschwerdebild und der Ausprägung verändern. Vor allem die in der Kindheit oft dominierende Hibbeligkeit und psychomotorische Unruhe scheint im Erwachsenenalter in den Hintergrund zu rücken. Neben der Unaufmerksamkeit und Impulsivität bleibt hingegen häufig eine innere Unruhe bis ins hohe Alter bestehen.

Bezüglich der erlebten und berichteten Beschwerden fallen auch große interindividuelle Variationen auf. Während manche Patient:innen aufgrund ihrer Beschwerden privat und beruflich immer wieder scheitern, können andere trotz ihrer Einschränkungen durch das selbstständige Entwickeln von Strategien und Kompensationsmöglichkeiten im Alltag bestehen.

Bei der ADHS-Erkrankung ist daher von einem dimensionalen Syndrom auszugehen, eine dichotome Zuordnung scheint nicht möglich. Umso entscheidender ist eine qualitative Diagnostik zur professionellen Einschätzung des Ausprägungsgrades der Symptome, die zur Verifizierung oder zum Ausschluss einer psychiatrischen Störung führt.

Diagnosestellung im Erwachsenenalter

Diagnosestellung im Erwachsenenalter

Eine ADHS-Untersuchung besteht aus multimodalen Diagnostikbausteinen, ist aufwändig und zeitintensiv - vor allem bei Patient:innen, die sich erstmalig im Erwachsenenalter vorstellen und noch keine Vordiagnose aus der Kindheit haben. Die Diagnosestellung kann in spezialisierten Ambulanzen wie der Männersprechstunde im Zentrum für Psychiatrie Cham erfolgen.

Im Rahmen einer ausführlichen Anamnese wird zunächst eine Übersicht über verschiedene Lebensbereiche erstellt. Es werden unter anderem das Vorschulalter, die Schullaufbahn, die berufliche Ausbildung und die aktuelle Arbeitssituation erfasst. Dabei werden die Entwicklung, der Verlauf, die möglichen Veränderungen der Symptomatik sowie deren Einfluss auf diese Lebensbereiche herausgearbeitet.

Biografischer Rückblick

Mit Hilfe von Selbstbeurteilungsinstrumenten können die Symptome einer ADHS spezifisch abgefragt werden. Da vor der Diagnosevergabe der Beginn der Symptomatik vor dem 12. Lebensjahr nachgewiesen werden muss, wird mit Ratingskalen nicht nur die aktuelle Symptomatik exploriert, sondern auch die retrospektive Abfrage der Beschwerden in der Kindheit der Betroffenen ist maßgebend.

Ergänzend zu den Selbstauskünften der Betroffenen beziehen Diagnostiker auch fremdanamnestische Angaben mit ein. Hilfreich hierfür können die Durchsicht der Verhaltensbeobachtungen in alten Schulzeugnissen sein und, falls der Patient zustimmt, das Befragen von Familienangehörigen, die eine Fremdbeurteilung und damit eine andere Perspektive liefern können.

Verschiedene Tests

Im weiteren Verlauf können verschiedene Bereiche der Aufmerksamkeit und das Arbeitsgedächtnis in einer neuropsychologischen Testung untersucht werden. Hierfür eignen sich vor allem computergestützte Verfahren, die eine objektive Messung der kognitiven Funktionen zulassen. Die ermittelten Ergebnisse der Patienten werden dabei mit denen Nicht-Betroffener verglichen und entsprechend interpretiert.

Durch eine Intelligenztestung sowie die testpsychologische Differentialdiagnostik soll festgestellt werden, ob die vorhandene Symptomatik eindeutig auf ein zugrundeliegendes ADHS zurückführbar oder durch eine andere psychiatrische Erkrankung erklärbar ist.

Die Diagnostikphase wird durch eine medizinisch-organische Abklärung komplettiert. Eine Bildgebung sowie die Untersuchung der Blutwerte und der Schilddrüse sollen mögliche somatische und neurologische Ursachen der vorhandenen Symptomatik ausschließen.

ADHS-Behandlung

Zwar ist bei erwachsenen Betroffen oft schon der steinige Weg in die Berufstätigkeit überwunden. Aber es gibt viele weitere Gründe, die Symptomatik der ADHS-Erkrankung zu behandeln.

Die Patient:innen weisen oft eine gereizte Grundstimmung auf, haben überdurchschnittlich oft Konflikte, leiden aufgrund wiederholter Misserfolgserlebnisse an Selbstzweifeln. Zudem besteht bei ADHS-Betroffenen ein erhöhtes Risiko, an weiteren psychiatrischen Störungen wie Depression, Angst- oder Suchtstörungen komorbid zu erkranken. Auch wurde eine erhöhte Prävalenzrate für metabolische Begleiterkrankungen wie Diabetes und Hypertonie belegt.

Therapiemix

Nicht verwunderlich ist daher, dass seit 2018 im Rahmen der S3-Leitlinien eine Behandlung bereits bei leichter Symptomatik empfohlen wird. Aktuelle Studien belegen dabei die Wirksamkeit einer Kombination der pharmakologischen Behandlung mit einem verhaltenstherapeutischen Ansatz.

Als Medikation gilt Methylphenidat als Mittel der Wahl. Alternativen können bei Unwirksamkeit, Unverträglichkeit oder Komorbiditäten auch Atomoxetin oder Antidepressiva bilden.

Im Rahmen der Psychotherapie im Einzel- oder Gruppensetting können nicht nur die psychosozialen Folgen der ADHS-Erkrankung therapiert werden. Es kann darüber hinaus das Erkennen typischer Symptome und problematischer Verhaltensweisen geschult sowie alternative Strategien für einen verbesserten Umgang mit Symptomen erarbeitet werden. Auch der Abbau belastender Denk- und Verhaltensmuster sowie das Erkennen eigener Stärken stellen wichtige Therapiebausteine dar.

Die Kernsymptome der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

Sie umfassen Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität. Hier ein paar typische Symptome:

Aufmerksamkeitsstörungen

  • Flüchtigkeitsfehler
  • Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten
  •  Nicht-Reagieren, wenn man angesprochen wird
  • Schwierigkeiten, Aufgaben und Anweisungen vollständig durchzuführen
  • Schwierigkeiten, Aufgaben zu organisieren und zu planen
  • häufiges Verlegen von Alltagsgegenständen
  • erhöhte Ablenkbarkeit durch Gedanken oder äußere Reize sowie eine erhöhte Vergesslichkeit.

ADHS-Patienten leiden jedoch nicht an einem generellen Defizit der Aufmerksamkeitsfähigkeit. Bei entsprechendem Interesse kann häufig sogar eine überdurchschnittliche Konzentration, im Sinne eines Hyperfokussierens, aufgebracht werden.

Hyperaktivität

  • Symptome wie häufiges „Zappeln“ mit Händen oder Füßen
  • Herumrutschen auf dem Stuhl
  • Aufstehen oder Herumlaufen in Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird,
  • Schwierigkeiten, sich ruhig zu beschäftigen
  • erhöhte Gesprächigkeit und das Gefühl, getrieben und „auf Achse“ zu sein.

Impulsivität

  • Herausplatzen mit Antworten, bevor die Frage zu Ende gestellt ist
  • Nicht warten können, bis man an der Reihe ist oder das Unterbrechen und Stören von Dritten, während diese beschäftigt sind

Die Autorin:

Melissa Langer ist Diplom-Psychologin in der Psychiatrischen Institutsambulanz des Zentrums für Psychiatrie Cham und dort Mitglied im Team der Männersprechstunde.

medbo Zentrum für Psychiatrie Cham
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