Für das diktatorische Regime des Nationalsozialismus in seiner menschenfeindlichen Ideologie galten psychisch Kranke und Behinderte als „minderwertige Ballastexistenzen“, die ebenso wie Menschen vermeintlich andersartiger „Rassen“, Religionen, sexueller Orientierungen oder politischer Überzeugungen vernichtet werden sollten. Gleich nach ihrer „Machtübernahme“ 1933 kürzten die Nationalsozialisten (NS) die Pflegesätze für die psychiatrischen Krankenhäuser, führten Zwangssterilisierungen ein und erarbeiteten Pläne für die Organisation eines industriemäßigen Massenmords psychisch Kranker, der 1939 ab Beginn des zweiten Weltkriegs als sogenannte „Aktion T4“ in die Tat umgesetzt wurde und als Vorstufe für den millionenfachen Massenmord an Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, politischen Gegnern und anderen Menschen gilt.
Im Zuge der von der Berliner T4-Zentrale organisierten Mordaktion wurden auch die Patient:innen der Regensburger Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll, dem heutigen Bezirksklinikum Regensburg (früher im Volksmund kurz "Karthaus" genannt), sowie caritativer Pflegeheime generalstabsmäßig erfasst und 641 von ihnen in Schloss Hartheim bei Linz durch Giftgas ermordet. Nach dem Abbruch der „Aktion T4“ im August 1941 starben bis 1945 etwa 950 weitere Patienten in Karthaus an den Folgen von katastrophaler Mangelversorgung.
Dieses dunkelste Kapitel in der Geschichte unseres Krankenhauses, an dem Ärzte, Pflegekräfte und Verwaltungsbeamte beteiligt waren, muss uns für immer eine Lehre und Mahnung sein. Seit 1990 erinnert die medbo regelmäßig an diese Verbrechen und die Verantwortung für alle nachfolgenden Generationen - über diese Web-Seiten ebenso wie im Unterricht an ihren Pflegeschulen, durch öffentliche Vorträge und jährliche Gedenkgottesdienste und nicht zuletzt mit unserer Gedenkstätte im Vorhof der Krankenhauskirche St. Vitus neben dem Psychiatriemuseum der Museen Karthaus
Geschichte dokumentieren
Prof. Dr. Clemens Cording, langjähriger stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie & Psychotherapie der medbo Regensburg, hat ab 1985 über die Geschichte von Karthaus und insbesondere auch die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus geforscht, die erste Gedenkveranstaltung am 4. November 1990 angeregt und die Ergebnisse seiner Nachforschungen in einem Buch veröffentlicht.
Entgegen einer landläufigen Vorstellung war die deutsche Anstaltspsychiatrie in den 1920er Jahren an vielen Orten vorbildlich im Sinne von Humanität und Menschenwürde reformiert worden. Nicht wenige alte Verwahranstalten, die im 19. Jahrhundert oft eher Gefängnischarakter gehabt hatten, waren zu modernen Einrichtungen umgestaltet worden, in denen man durch aktive Behandlungsmaßnahmen psychische Krankheiten heilen oder zumindest bessern und die Patienten möglichst bald wieder in die Gesellschaft integrieren wollte.
Das gilt insbesondere auch für Regensburg, wo „Karthaus“ ab 1916 mit Dr. Karl Eisen einen tatkräftigen, einfallsreichen und mutigen Reformpsychiater als Direktor bekommen hatte.
Zwangsmaßnahmen wurden weitgehend abgeschafft, viele Stationen wurden geöffnet, die Gebäude schön und wohnlich eingerichtet. Und neben einer reich differenzierten Palette von Arbeits- und Beschäftigungstherapien (Karthaus versorgte sich mit Hilfe der Patienten weitgehend autark) wurde ein abwechslungsreiches Freizeitprogramm organisiert, etwa eine Theatergruppe und eine Krankenhauszeitung, die von Patienten und Mitarbeitern gemeinsam betrieben wurden.
Trotz seines besonders knappen Budgets wurde Karthaus 1928 als eine der fortschrittlichsten Anstalten Bayerns ausgezeichnet.
Die nationalsozialistischen Herrscher begannen ihren Kampf gegen die psychisch Kranken 1933 schon wenige Wochen nach ihrer Machtübernahme und kürzten zunächst die Finanzmittel für die psychiatrischen Krankenhäuser von Jahr zu Jahr empfindlich.
Nachdem Direktor Eisen wiederholt vergeblich gegen die Demontage der in Karthaus erreichten Reformen protestiert und nicht zuletzt darauf hingewiesen hatte, dass dieses Vorgehen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten unsinnig war, ließ er sich 1937 vorzeitig in den Ruhestand versetzen. Der Verwaltungsleiter, der das Reformprogramm aktiv unterstützt hatte, ließ sich kurz darauf ebenfalls pensionieren.
Auf die von den Nationalsozialisten im Zuge einer falsch verstandenen und ideologisch motivierten „Eugenik“ per Gesetz eingeführten Zwangssterilisierungen psychisch Kranker kann hier nur kurz hingewiesen werden: Von 1934 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden in Karthaus etwa 20% aller damals stationär behandelten Patienten zwangssterilisiert, und zwar vor allem die leichter Kranken, bei denen eine Krankenhausentlassung in Betracht kam.
Ohne Rechtsgrundlage und entgegen den bestehenden Gesetzen unterzeichnete Hitler im Oktober 1939 eine auf seinem privaten Briefpapier geschriebene, auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierte geheime Ermächtigung, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“. In Wirklichkeit hatten die organisatorischen Vorbereitungen für einen systematischen Massenmord an psychisch Kranken schon vorher begonnen. Es ging dabei keineswegs um einen „Gnadentod“ oder „Euthanasie“ bei einzelnen leidenden, unheilbar kranken Menschen.
Es ging vielmehr um die gezielte Vernichtung aller „unnützen Esser“, wie es damals hieß, also derjenigen Kranken, die „zu keiner produktiven Arbeitsleistung“ im Sinne des NS-Regimes fähig waren.
Ungeachtet der angeblichen Kriterien wurde bereits am 9. Oktober 1939 festgelegt, dass 65.000 bis 70.000 Kranke getötet werden sollten, was etwa 20% der damals in den Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten Patienten entsprach.
Unter dem Decknamen „Aktion T4“ wurde in Berlin in der Tiergartenstraße 4 (daher der Name T4) eine zentrale Geheimbehörde mit verschiedenen Unterorganisationen zur bürokratischen Abwicklung der Massentötungen eingerichtet.
Der ab Oktober 1938 zum neuen Direktor von Karthaus-Prüll berufene Dr. Paul Reiß war ein überzeugter, aktiver Nationalsozialist. Gleichwohl erfolgte der Zugriff der „Aktion T4“ auf Regensburg später als in anderen Anstalten und zunächst ohne Einsatz der Meldebögen, die ab Oktober 1939 an die meisten anderen Anstalten verschickt worden waren.
Stattdessen erschien im September 1940 überraschend eine Kommission in Karthaus und arbeitete die dortigen Patientenakten durch, ohne die Anstaltsärzte zu beteiligen. Als Resultat bekam der Direktor Anfang November 1940 eine erste Liste von 117 Patienten mit der Weisung, diese am nächsten Morgen um vier Uhr früh zum Abtransport in eine nicht näher bezeichnete „Reichsanstalt“ vorzubereiten; die persönliche Habe sowie die Krankengeschichten seien mitzugeben.
Zunächst wusste niemand, was das in Wirklichkeit bedeutete.
Offiziell hieß es, es handle sich um kriegsbedingte Verlegungen in eine andere Anstalt, um Platz für verwundete Soldaten oder für Evakuierte zu schaffen beziehungsweise um die chronischen Patienten anderswo kostengünstiger versorgen zu können. Für die weiteren Tötungstransporte wurden die Patienten durch ein Gremium von „Gutachtern“ der Berliner T4-Zentrale anhand der üblichen Meldebögen ausgewählt, die dann auch in Regensburg für alle Patienten ausgefüllt werden mussten. Obwohl die Patiententötungen streng geheim gehalten wurden und nie eine gesetzliche Grundlage erhielten, sickerte nach und nach durch, was die „Verlegungen“ in Wirklichkeit bedeuteten.
Nach den ersten Deportationen Regensburger Patienten wurden auf Anweisung der T4-Zentrale in mehreren Sammeltransporten Hunderte von chronisch psychisch Kranken und Behinderten aus caritativen Pflegeheimen nach Karthaus verlegt, von denen fast 60% zur Tötung in Hartheim selektiert wurden.
Insgesamt wurden zwischen dem 4. November 1940 und dem 5. August 1941 in fünf Transporten 641 Patienten aus Regensburg nach Hartheim bei Linz deportiert und dort am selben Tag mit Kohlenmonoxyd-Gas getötet. Bereits im September 1940 waren auf zentrale Anweisung außerdem die zwölf Patienten jüdischen Glaubens aus Karthaus zusammen mit den jüdischen Patienten aller anderen bayerischen Anstalten in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar verlegt worden, von wo aus sie ebenfalls nach Hartheim deportiert und dort umgebracht wurden. Zusammen genommen wurden somit fast 40% aller in diesem Zeitraum in Karthaus befindlichen Patienten ermordet.
Dr. Reiß hat die Tötung von Patienten anscheinend nicht befürwortet. Es ist belegt, dass Ärzte von Karthaus in Einzelfällen Patienten vor den drohenden Abtransporten durch rasche Entlassungen gerettet haben. Das war keineswegs einfach, nachdem die Transportlisten immer erst wenige Tage zuvor bekannt wurden und die Patienten nicht ohne Genehmigung der Behörden entlassen werden durften. Teilweise ging die Initiative von den Ärzten aus, teilweise drängten auch die Angehörigen. Es kam aber auch vor, dass sich Angehörige nicht dazu bewegen ließen, die Patienten bei sich aufzunehmen, einzelne sollen sogar die Tötung der Kranken gewünscht beziehungsweise sich später dafür bedankt haben.
Am 3. August 1941 prangerte Bischof Clemens August Graf von Galen in einer berühmt gewordenen Predigt in Münster die Krankentötungen öffentlich an und erstattete bei der Staatsanwaltschaft und dem Polizeipräsidenten Anzeige wegen Mordes. Unter anderem sagte er: „Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, ‚unproduktive‘ Mitmenschen zu töten – und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft – dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.“ Hitler ließ die „Aktion T4“ wenige Wochen später einstellen. Bis dahin waren ihr insgesamt 70.273 psychisch kranke oder behinderte Menschen zum Opfer gefallen, war die ursprünglich geplante Zahl also bereits überschritten worden.
Dennoch hatte das Sterben in den psychiatrischen Anstalten kein Ende.
Einige der Direktoren, die sich als „Gutachter“ aktiv an der „Aktion T4“ beteiligt hatten, setzten die Krankentötungen jetzt selbstständig mit Giftinjektionen oder überhöhten Schlafmittel-Dosen in ihren Anstalten fort. Alle bayerischen Anstaltsdirektoren wurden außerdem im November 1942 vom Münchner Innenministerium angewiesen, den nicht mehr arbeitsfähigen Patienten nur noch eine mehr oder weniger kalorienlose Verpflegung zu geben, was innerhalb von zwei bis drei Monaten zum Tod durch Unterernährung beziehungsweise Infektionskrankheiten führen sollte.
Dieser so genannte „Bayerische Hungerkosterlass“ wurde in Regensburg von Dr. Reiß Ende Dezember 1942 an die Verwaltung weitergegeben, allerdings nach Zeugenaussagen (die durch unsere statistischen Auswertungen untermauert werden) nicht konsequent umgesetzt.
Patiententötungen durch Injektionen beziehungsweise Medikamente hat es in Regensburg offenbar nicht gegeben. Gleichwohl sind in Folge der von der nationalsozialistischen Administration veranlassten Maßnahmen, die zu chronischer Mangelernährung, massiver Überbelegung und insgesamt lebensfeindlichen Zuständen führten, in Karthaus zwischen 1941 und 1945 noch etwa 950 Patienten zusätzlich umgekommen. Zusammen mit den 641 Opfern der „Aktion T4“ und den zwölf ermordeten jüdischen Patienten wurden hier somit etwa 1.600 Patienten Opfer der nationalsozialistischen Psychiatriepolitik.
Cording, Clemens Prof. Dr.: Das dunkelste Kapitel der Psychiatrie - Die Tötung Regensburger Psychiatrie-Patienten im Nationalsozialismus, Magazin SYNAPSE 1/2016, S. 12ff, medbo KU, Regensburg