2022 wurden in Deutschland über 81.000 Menschen substituiert, etwa 100 jedes Jahr an der Substitutionsambulanz der medbo Regensburg. Einige dieser Menschen würden ihre Opiatabhängigkeit ohne dieses Therapieangebot nicht überleben.
Die Sucht nach Opiaten oder Opioiden führt fast unweigerlich zur chronischen Abhängigkeit. Der Suchtdruck, die mit dem Konsum von Heroin & Co. einhergehenden körperlichen Folgeerkrankungen, der soziale Abstieg und die psychischen Belastungen können in letzter Konsequenz sogar im Suizid oder einer tödlichen Überdosis enden. Die moderne Substitutionstherapie, wie sie am medbo Bezirksklinikum Regensburg durchgeführt wird, rettet nicht nur Leben: Sie eröffnet neue Perspektiven.
Die Substitutionsbehandlung kann helfen, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Peter S. ist der im wahrsten Sinn des Wortes „lebende“ Beweis dafür. Der End-Fünfziger sagt selbst, dass es fast einerlei gewesen wäre, ob er sich selbst umgebracht hätte, oder ob ihn das schrittweise Versagen wesentlicher Organe das Leben gekostet hätte. „Irgendwann ist in diesem Sumpf nur noch der nächste Schuss wichtig. Alles andere verdrängt man. Die Schmerzen, das ganze Elend, die Traurigkeit. Die Leere.“ Dass er diese Erkenntnis überhaupt gewinnen konnte, liegt nicht zuletzt an der Substitutionsambulanz der medbo Regensburg. Aber der Reihe nach…
Hinter der Fassade
Peter S. wächst in Norddeutschland auf. Nach außen scheint seine Familie intakt. „Es war eine kalte Hölle“, soweit sein knapper Kommentar. Sein Elternhaus fordert Leistung. Peter wird also schon als Schulkind Leistungssportler. Leichtathletik und Akrobatik betreibt er in einem Ausmaß, das seinen Körper an die Grenzen der Belastbarkeit bringt. Aber Anerkennung bringt ihm das nicht. Darum macht er weiter, immer weiter - auch unter extremen Schmerzen.
Früh versucht er, sich von zuhause abzunabeln. Er zieht vom Land in die Stadt, wo er eine Ausbildung zum Elektromonteur macht. Wieder eine stark körperliche Tätigkeit. Er sucht sich neue Freunde – leider die „Falschen“. „Mit 13 ging es los mit Partys und Alkohol. Zum Durchhalten habe ich mal eine Pille eingeworfen und so. Alle haben das gemacht. Und ohne Pillen hätte ich die Dauerschmerzen auch nicht ausgehalten.“ Eine typische Drogenkarriere. Das in der Ausbildung verdiente Geld reicht bald nicht mehr, nicht fürs Leben und schon gar nicht für den Stoff. Peter rutscht in die Kleinkriminalität ab, landet mit 16 Jahren im Knast, später als schwer Drogenabhängiger immer wieder auch in der Forensik. Mit Anfang 20 ist er schon mitten drin im Teufelskreis von Alkohol, Tabletten und immer härteren Drogen. Es folgt Entgiftung auf Entgiftung. Ohne Erfolg.
Willensakt
Dass die Zeit im Gefängnis nach der Zeit in seiner toxischen Familie sein zweites Trauma ist, wird er erst vierzig Jahre später verstehen. Aber sein Weg in ein besseres Leben beginnt mit einem weiteren Absturz: „Mir war nie klar, wie krank ich war. Ich habe Heroin ‚gedrückt und gedrückt‘, war ein Wrack. Für mich war das Heroin immer die Lösung, mit den Schmerzen fertig zu werden. Und irgendwann habe ich mir gar keine Gedanken mehr gemacht. Ich komme ja eh nicht los. Wozu auch“, sagt S.
2007 rutscht er völlig ab. Er kommt stationär zur medbo Regensburg zur Entgiftung. Dort rät man ihm, im Anschluss eine Substitutionsmitteltherapie zu beginnen. Bei Patienten, die so viele Rückfälle in die Drogensucht erlebt haben wie Peter S., ist die Substitution die Therapie der Wahl. In der Substitutionsambulanz geschehen dann zwei Dinge: Er erlebt zum ersten Mal lange Phasen ohne Alkohol und Drogen, er bekommt durch den Ersatzstoff seinen Suchtdruck in den Griff.
Begreifen lernen
Und er begegnet dem Thema „Traumatherapie“ – für ihn absolutes Neuland. Denn er bekommt bei der medbo eine Psycho- und Traumatherapeutin. Diese wird seine Bezugsperson in der Substitutionsambulanz. Die Spezialistin vermutet bald, dass Peter S. Erkrankung auf tiefen Verletzungen wurzelt, die in seiner Krankheitsgeschichte nie thematisiert wurden. Die Therapeutin klärt ihn über die Art seiner Erkrankung auf, schildert, wie eng Suchtthemen auch mit weiteren psychischen Erkrankungen einhergehen. Sie begleitet ihn, als in der körperlich-organischen Diagnostik klar wird, dass die Leber von Peter S. kurz vor dem Versagen steht.
medbo Oberärztin Dr. Ursula Piendl kennt den Fall und erklärt diese Vorgehensweise: „Psychoedukation bedeutet im Suchtkontext oft viele kleine Informationshappen und Erklärungsversuche, bis der Patient soweit ist und begreift, wie seine Lebensgeschichte mit seiner Krankheit verwoben ist.“ Das Perfide bei Opiaten sei, so Piendl, dass sie sich für die Patient:innen erstmal wie eine Lösung ihres Problems anfühlten, weil die Stoffe negative Emotionen dämpften und beim Vergessen helfen. Bis die Realität mit aller Wucht zurück komme.
Aber Peter S. begreift. Und er macht alle Therapieangebote der Substitutionsambulanz mit. „Denn das Besondere der medbo Substitutionsambulanz ist, dass sie eingebunden ist in die Klinik für Psychiatrie & Psychotherapie und deren Institutsambulanz. So steht als Therapie nicht nur die reine Substitution zur Verfügung, sondern alle Methoden der modernen Psychiatrie“, erläutert Ursula Piendl. Vor allem die Traumatherapie – also die Aufarbeitung von schwer belastenden Erfahrungen – sei ein Spezialgebiet der Substitutionsambulanz. Das ermögliche, dass Therapeut und Patient gemeinsam Stück für Stück den Lebensweg des Betroffenen nachgehen könnten.
Eine „Lebens“-Aufgabe
„Ich habe begriffen, dass meine Drogenabhängigkeit ein Leben lang andauern wird“, sagt Peter S. „Das Ziel ist Abstinenz, nicht Heilung. Denn bei vielen unserer Patient:innen kommt eine Abdosierung nicht in Frage, vor allem, wenn noch eine chronische Schmerzstörung mit im Spiel ist“, sagt die Psychiaterin Piendl zum Fall Peter S. Mittlerweile ist S. seit vier Jahren alkoholfrei und sein letzter Heroin-Rückfall liegt noch länger zurück.
Er wird voraussichtlich nie mehr einer geregelten Arbeit nachgehen können und ist mittlerweile berentet. "Aber ich kümmere mich ehrenamtlich um Tiere, die Hilfe brauchen.“ Das erste Mal im Leben hat er einen guten Freund gefunden, der ihn unterstützt. Er hat eine kleine Wohnung. Ein kleines Glück. Peter S.: „Und auch wenn ich Schmerzen habe: ich lebe. Ein Riesengeschenk.“
In einer Substitutionsambulanz werden opiatabhängigen Patient:innen gezielt Ersatzmedikamente verabreicht. Die Ambulanz am Bezirksklinikum Regensburg war im Herbst 1998 eine der ersten Substitutionsambulanzen in Bayern, die direkt an eine Klinikambulanz angegliedert war. Bis dahin substituierten nur (viel zu wenige) niedergelassene Ärzte. Daher wollte man dieses Angebot in Bayern als festes Angebot der Suchthilfe an Bezirkskliniken etablieren. Die psychosoziale Begleitung der Patient:innen sollte integrierter Bestandteil sein, weshalb anfangs vom Freistaat Bayern, anschließend vom Bezirk Oberpfalz eine sozialpädagogische Stelle an der medbo Regensburg finanziert wurde. Alle anderen Stellen finanzieren sich über die Psychiatrische Institutsambulanz, also über die gesetzlichen Krankenkassen.
In den ersten Jahren sollte die Substitutionsbehandlung nach den gesetzlichen Vorgaben und Leitlinien eine „Ultima-Ratio-Behandlung“ sein, wenn langjährige andere Behandlungsversuche keinen Erfolg gezeigt hätten. Auch die Freiheit vom Substitutionsmittel (das heißt ein mittel- bis langfristiges Abdosieren des Substitutionsmittels) war eines der obersten Behandlungsziele. Letzteres stelle sich in der Praxis als häufig unrealistisch heraus.
Heute ist die Substitution eine etablierte Standardbehandlung der Opiatabhängigkeit. Ziele sind vor allem die Sicherung des Überlebens, die Reduktion des sogenannten Beigebrauchs anderer Drogen, die Verringerung von Straffälligkeit, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und am Arbeitsleben und natürlich das Vermeiden der körperlichen, aber auch psychischen Folgeerkrankungen des meist intravenösen Heroinkonsums. Die Freiheit von Substitutionsmitteln ist ein Ziel, das zwar thematisiert und unterstützt wird, das aber nicht für alle Patient:innen erreichbar ist oder angestrebt wird.