„Jeden Tag meines Lebens balanciere ich auf einem sehr, sehr schmalen Grat. Links und rechts neben mir geht es tief runter. Und ich weiß: Der kleinste Windstoß kann mich aus dem Gleichgewicht bringen. Dann stürze ich ab.“ Ludwig Rimböck kennt seine Krankheit. Der Mittvierziger leidet an einer Borderline-Störung, bei der die emotionalen Reaktionen auf äußere und innere Einflüsse extrem ausfallen. So extrem, dass Borderline als eine der gefährlichsten psychischen Erkrankungen mit hoher Selbstverletzungs- und Suizidtendenz gilt. Denn diese Menschen sind gleichzeitig seelisch sehr verwundbar: Ihre Vulnerabilität, also die Schwelle, bis zu der sie mit Stress psychisch gut umgehen können, ist vergleichsweise niedrig.
Die eine Borderline-Störung gibt es nicht, hinter jedem Fall steckt ein Schicksal. Das amerikanische DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) listet neun Symptome auf. Sind fünf davon erfüllt, ist die Diagnose Borderline relativ sicher. Das allein schon sind rein mathematisch 126 Arten und Weisen, wie Borderline ein Leben aus den Angeln heben kann. „Ich habe im Lauf der Jahre so viele Mitpatientinnen und -patienten kennengelernt. Alle haben eine eigene Geschichte und eigene Reaktionsmuster. Manche haben einen Beruf, aber dekompensieren im Privatleben völlig, manche sind isoliert und nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Andere – wie ich – haben keine Chance beruflich am Ball zu bleiben.“
Die Geschichte von Borderline-Patient:innen beginnt nicht am Tag der ersten Symptome. Die bei weitem meisten von ihnen wurden in Kindheit und Jugend misshandelt, körperlich, psychisch, seelisch, sexuell. Auch bei Ludwig Rimböck war das so. Ein strenges, zwanghaft kontrollierendes Elternhaus, das dem Kind Ludwig keine eigene Persönlichkeit, keine Entwicklung zugesteht als die, die es für ihn vorgesehen hat. Entwürdigung, Druck und Schläge inbegriffen. „Einer der wichtigsten Ratschläge, die ich allen Betroffenen gebe, ist: Löse dich so früh wie irgend möglich aus Terrorbindungen, wie ich sie nenne. Und ich weiß, das ist vielleicht sogar die schwerste Hürde, die man nehmen muss, um mit der Krankheit fertig zu werden.“ Ludwig Rimböck kämpft bis heute mit dieser Hürde.
Er ist ein kluger Kopf, ein hochbegabter Mann sogar, kreativ, begeisterungsfähig und aufgeschlossen. Wieso auch nicht! Betroffene Menschen sind psychisch krank, nicht dumm. Er ist gerade mitten im Studium an der Uni Regensburg, als sein Leben beginnt, Stück für Stück auseinander zu fallen. Es geht ihm so schlecht, dass er die Universität verlassen muss. Damals weiß er nicht, dass er niemals einen Beruf ausüben können wird. Ludwig Rimböck: „Borderline-Schübe sind ziemlich unberechenbar. Die Krankheit macht es vielen Betroffenen wie mir unmöglich, feste Routinen verlässlich einzuhalten. Das akzeptiert kein Ausbildungsbetrieb und kein Unternehmen.“
Dabei würde er sich das wünschen: eine Arbeit zu haben, die er trotz Krankheit ausfüllen kann. Ludwig Rimböck lebt heute von Grundsicherung, denn als chronisch kranker Borderline-Patient hatte er nie die Chance, einen Rentenanspruch zu erwerben. „Ich leide sehr unter der Armut, die Borderline so oft mit sich bringt. Sie stigmatisiert noch mehr als die Krankheit selbst“, erzählt Rimböck. „Aber einer meiner Ärzte hat mir mal gesagt, dass mein Beruf die tägliche Bewältigung der Krankheit ist. Das hat mir sehr geholfen. Heute bin ich Experte in eigener Sache.“ Er schmunzelt.
Als Experte in eigener Sache engagiert er sich in der Regensburger Selbsthilfe-Landschaft. „Ich würde allen Betroffenen dringend raten, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen.“ Der Austausch in der Gruppe tue wohl, man bekommt Tipps und Unterstützung. Der Raum in der Gruppe sei völlig frei von Vorurteilen. Aber es ginge in den Gruppen nicht nur um die Krankheit, es sei eine soziale Gemeinschaft, in der sich Freundschaften bildeten. Doch Rimböck warnt auch: „Es besteht die Gefahr, dass man sich als Kranker in seiner sozialen Bubble einschließt. Man muss sich aber klarmachen, dass der Selbsthilfe-Raum aus psychisch instabilen Teilnehmer:innen besteht.“ Sein Rat: „Geht raus! Wer nicht arbeiten kann wie ich, kann sich ehrenamtlich engagieren, kann in Vereinen mitarbeiten.“ Rimböck selbst spricht viel öffentlich über seine Krankheit, auch auf Vorträgen. Als Journalist engagiert er sich unter anderem für Kultür, dem Regensburger Verein zur Förderung kultureller Teilhabe, und beim Sozialmagazin Recara.
„In meiner Studienzeit war es oft so, dass ich ganz normal morgens aufgestanden bin, mich für den Tag hergerichtet habe. Aber vor meiner Wohnungstür konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen. Es fühlte sich an, als würde ich bis zum Hals in einer unendlich zähen Masse stecken.“ Eine handfeste Panikattacke. So ist es bei Ludwig Rimböck, aber nicht nur. „Früher habe ich mich stark selbst verletzt, habe mir zum Beispiel die Arme aufgeritzt. Dann kam Alkohol hinzu. Aber meine Krankheit verändert mit den Jahren ihr Gesicht. Heute neige ich eher dazu, mich bei einer Borderline-Krise völlig zurückzuziehen, also depressiv zu reagieren“, sagt er. Aber das, so erklärt er, hieße auch, dass man lernen könne mit der Krankheit zu leben. Und zu überleben. Ludwig Rimböck hat drei Suizidversuche hinter sich.
Er hat gelernt, mit seiner Erkrankung umzugehen. „Sie ist mein Beruf geworden. Ich verbringe mein Leben damit, mich mit der Krankheit zu arrangieren. Und ich bin Experte darin geworden.“ Aber das hat gedauert. Jahrelang war nicht klar, was ihm fehlt. Erst vor neun Jahren bringen ihn besorgte Freund:innen ins Bezirksklinikum Regensburg, wo endlich die richtige Diagnose gestellt wurde. „Meine persönliche Wendezeit“, erinnert sich Rimböck, „Am 4. Oktober 2011 wurde ich in der speziellen Borderlinestation im Bezirksklinikum München-Haar aufgenommen.“ Die Dialektisch-Behaviorale-Therapie (DBT) hilft ihm, die Erkrankung zu begreifen und seine Gefühle und Affekte besser zu steuern.
Auch wenn er ein Leben lang auf medizinische Nachsorge und Krisenversorgung angewiesen sein wird, rät Rimböck deshalb allen Borderliner:innen: „Lasst euch helfen, geht ins psychiatrische Krankenhaus so früh wie möglich.“ Im stationären Setting könne man sich völlig auf die Therapie konzentrieren, denn man würde rundum versorgt. Aber mehr noch schätzt Rimböck, dass er heute durch einen Pflegemitarbeiter des Bezirksklinikums Regensburg aufsuchend ambulant betreut wird. „Es fehlen wichtige Fixpunkte in meiner Woche, wenn ich mich mit keinem Bezugspfleger treffen kann.“ Mittlerweile kann Rimböck auch mit akuten Borderline-Symptomen gut umgehen. Derzeit ist er allerdings wieder dreimal wöchentlich in der Psychiatrischen Institutsambulanz der medbo Regensburg: zum Neurofeedback. „Hier trainiere ich Konzentration und Fokussiertheit. Mit meinen unbewussten Gedanken steuere ich hier eine Anzeige auf einem Computermonitor“. Ob es hilft? Rimböck lacht: „Ich selber merke eigentlich nichts. Aber mein Umfeld meint, ich hätte irgendwie eine andere Präsenz und Ausstrahlung.“ Nicht schlecht, Herr Rimböck!