Es sind nicht nur die typischen Typ I-Traumata wie Naturkatastrophen, Unfälle oder Gewalttaten, die diese Kaskaden auslösen können. Was wir als existentiell bedrohlich wahrnehmen, hängt immens vom Alter, von der Häufigkeit des Erlebens, von den bisherigen Lebenserfahrungen und vielen weiteren Faktoren ab. So gibt es ein ganzes Spektrum von traumatisierenden Erfahrungen - insbesondere die Beziehungs- und Entwicklungstraumata - die zu einer schwerwiegenden psychischen Verwundung der Betroffenen führen können. Mit Auswirkungen auf allen Ebenen des menschlichen Seins.
Meist treten dann Symptome auf kognitiver, emotionaler und körperlicher Ebene auf. Für Betroffene bedeutet das, dass sie beispielsweise immer wieder von inneren Bildern, Albträumen, intensiven Körperempfindungen bis hin zu Flashbacks überwältigt werden. Sie erleben sich als „neben sich stehend“, „wie im Nebel taumelnd“, „abgeschnitten“, „taub“, „mutterseelenallein und hilflos“. Intensive Wut und Angst sind nicht selten. Körperlich spüren traumatisierte Menschen zumeist eine anhaltende Anspannung und innere Unruhe, oft begleitet mit Magen-Darm-Beschwerden, Schlafstörungen, Schmerzen und vielem mehr.
Das Erleben von traumatisierenden Erfahrungen hat einen immensen Einfluss auf die Funktionalität des sogenannten Autonomen Nervensystems (ANS) – unseres „Autopiloten“ – sowohl kurz- als auch langfristig. Das ANS ist eines der wichtigsten Steuerungsinstrumente, das unseren Körper permanent reguliert, wie ein Radar ständig unsere Umgebung und unser Inneres nach Anzeichen von Sicherheit beziehungsweise Gefahr abscannt. Nach der sogenannten Polyvagaltheorie kennt das ANS vier „Zustände“ oder Stufen: analog einer vierstufen Ampel.
Im grünen Bereich registriert das ANS Sicherheit, Wohlbefinden, Regeneration. Wir fühlen uns ruhig und entspannt, der Organismus kann sich erholen. Wir sind ganz bei uns und können unsere Konzentration nach innen richten. In der zweiten Stufe schaltet unser ANS auf Gelb: Aktivität und erweiterte Anforderung. Jetzt können wir spielen, Sport machen und moderate Aufgaben lösen. Die Außenwelt fordert hier unsere Aufmerksamkeit.
Bei akut bedrohlichen Ereignissen erfolgt eine maximale Aktivierung durch das ANS, um den gesamten Organismus in die Lage zu versetzen, zu kämpfen oder zu fliehen. Unser ANS steht auf Orange. Hält diese Anspannung lange an, verlagert sich unser Fokus vollständig auf die Bewältigung der Herausforderung – für eine Innenschau ist keine Ressource übrig.
Die letzte Stufe ist „Alarmstufe Rot“: Totstellen oder Erstarrung. Kommt unser ANS zu der unbewussten Einschätzung, dass weder Kampf noch Flucht zielführend sind, wird der Totstellen-Modus aktiviert. Unser Organismus schaltet in den oben zitierten „shut down“, unser Selbst beamt sich an einen anderen Ort oder empfindet gar nichts mehr. Wir dissoziieren.
Ein gesundes ANS schwingt situationsflexibel zwischen Regeneration und Aktivität und findet auch nach Hochstress-Phasen aus einem Notfallmodus wieder zurück in den grünen Bereich. In Folge von traumatisierenden Erfahrungen geht diese Schwingungsfähigkeit häufig verloren. Das ANS bleibt in einem Notfallmodus hängen. Schlimmer noch: Es kann zu Rückkoppelungseffekten vom Körper und den körperlichen Symptomen zum Gehirn/ANS kommen – dann wird das Trauma zum Dauerzustand.
Wie kommt man aus dieser Teufelsspirale wieder raus? Hier rückt das aus dem Takt geratene Zusammenspiel von Körper und Psyche in den Fokus. Denn der oben geschilderte Rückkoppelungseffekt bietet auch einen therapeutischen Ansatzpunkt: traumasensibles Yoga.
TSY soll das ANS wieder in einen Zustand des physiologischen Pendelns zwischen Entspannung und Anspannung bringen. Es nutzt dazu sanfte Bewegungs-, Atem- und Spür-Übungen. Im Umkehrschluss auf das Ampelmodell ergeben sich drei zentrale Aspekte, um das ANS zu regulieren: Sicherheit, Leichtigkeit und Präsenz.
Die Erfahrung von Sicherheit ist unersetzlich für ein Pendeln des ANS aus einem orange-roten in einen grünen Zustand. Die Vermittlung von größtmöglicher Sicherheit geschieht im TSY auf verschiedenen Ebenen, unter anderem über Beziehungsgestaltung, Gruppen-“Regeln“ und Wahlmöglichkeiten.
Leichtigkeit bedeutet die Freiheit von Erwartungen, Zielen, Anforderungen und Anstrengung. Alles kann, nichts muss. Alle TSY-Angebote unterstützen ein Nachlassen von Anspannung in der Muskulatur und im Atem (sanfte fließende Bewegungen, Schwingen, Schütteln, Atemübungen).
Traumasensibles Yoga unterstützt ein „In-Kontakt-Kommen“ mit sich selbst: Wir sind präsent im Hier und Jetzt. Das Spüren einer Bewegung, einer Dehnung, einer Muskelaktivierung, eines Kontakts zum Boden, eines Atemzugs, der eigenen Hände etwa - alles das können sehr behutsame, sichere „Brücken“ zu sich selbst sein.
TSY bedarf keiner Yoga-Kenntnisse noch besonderer körperlicher Fähigkeiten. „Sonnengruß“, „herabschauender Hund“ und andere, vermeintlich typische Yogahaltungen spielen in dieser mühelosen, wahrnehmungsorientierten Yoga-Praxis keine Rolle.
Eine innere annehmende Haltung von „alles darf sein“ beziehungsweise „ich darf sein, so wie ich bin“ schafft einen Erfahrungsraum, in dem Patient:innen mehr und mehr erleben können, dass all ihre Körperempfindungen, Emotionen, Gedanken sein dürfen, gehalten beziehungsweise moduliert werden können.
Der US-Psychiater Bessel van der Kolk, Leiter des Trauma Center in Boston, hat traumasensibles Yoga bereits 2003 in die Behandlung von Traumafolgeerkrankungen integriert und wissenschaftlich evaluiert. Er bringt die Bedeutung eines körperorientierten Ansatzes in der Traumatherapie auf den Punkt: „Traumatisierte können erst genesen, wenn sie sich mit den Empfindungen in ihrem Körper vertraut gemacht und mit ihnen Freundschaft geschlossen haben. Menschen können sich erst verändern, wenn sie ihrer Empfindungen und der Interaktion ihres Körpers mit seiner Umwelt gewahr sind. Körperliches Selbst-Gewahrsein ist der erste Schritt auf dem Weg zur Befreiung von der Tyrannei der Vergangenheit.“
Dr. Ellen Eckl ist ärztliche Psychotherapeutin, Yogalehrerin BDY und Trauma-Yogatherapeutin am medbo Zentrum für Psychiatrie Cham | Standort Amberg.