Mein Plan für diese Nacht: herausfinden, wie sich eine Nachtschicht im Krankenhaus anfühlt, welche Menschen man zwischen Abend und Morgen trifft. Ausgesucht habe ich mir dafür die neurologische Notaufnahme am Bezirksklinikum Regensburg.
Im zweiten Stock der Klinik für Neurologie. Sonja Zölch hat hier heute Nachtdienst. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin und Schlaganfallexpertin auf Station 22A, der neurologischen Normalstation. Hier ist auch die StrokeUnit integriert, die Schlaganfallspezialstation. Schwester Sonja wird mich heute also bestimmt auf eine spannende Reise durch die Nacht mitnehmen.
Es geht jetzt noch recht quirlig zu auf der Station. Die letzten Verwandten und Besucher:innen verabschieden sich und der Schichtwechsel ist in vollem Gange. Entsprechend finde ich Sonja Zölch im Stationsstützpunkt im Übergabegespräch mit ihrem Tagschicht-Kollegen Jürgen Zahn vertieft. Die Pflegeexpertin macht sich auf einem Block Notizen allen Patient:innen und stellt weitere Fragen. Beide schauen immer wieder zu einem Monitor mit einzelnen Fenstern, in denen sich bunte, gezackte Linien bewegen. Dieser Monitor wird uns – das lerne ich in dieser Nacht – ständig beschäftigen. Er zeigt wichtige Vitalfunktionen an: Blutdruck, Herzschlag, Sauerstoffsättigung. Und der Apparat piept. Ständig.
Auf einem weiteren Monitor in der Ecke des Zimmers sehe ich eine am Kopf verkabelte Patientin in ihrem Bett liegen. Sonja Zölch erklärt mir, dass es sich um eine Frau mit Epilepsieverdacht handelt, die einige Tage und Nächte hier unter Beobachtung verbringt. Die vielen Kabel gehören zum sogenannten Video-EEG-LangzeitMonitoring. Schwester Ines Jarek-Grusa ist heute Nacht für diese Patientin zuständig. Sie hat gemeinsam mit Schwester Sonja Dienst auf der 22A und übernimmt auch die Normalstation, wenn Schwester Sonja sich um die StrokeUnit und die Notaufnahme kümmert.
Nachdem ich einen blauen Pflegekittel bekommen habe, führt Sonja Zölch mich durch die Station. Es gibt neben den stationären Zimmern zahlreiche Funktionsräume, meist mit vielen Kabeln und Technik. Im Westteil der Station befindet sich nicht zuletzt der eigentliche Notaufnahmebereich. Auf der Nordseite von Station 22A hat man einen atemberaubenden Blick über Regensburg, man sieht den Dom und in der Ferne sogar die bunten Lichter der Regensburger Frühjahrs-Dult.
Aber schon ist Schluss mit der Romantik: Das Stationstelefon, das Zölch bei sich trägt, läutet. Ein Patient braucht Hilfe. Es ist der erste abendliche Neuzugang in der Notaufnahme, der kurz zuvor aufgenommen wurde.
Der Mann mittleren Alters ist mobil, muss aber entkabelt werden, damit er zum WC laufen kann. Auch Toilettengänge werden Sonja Zölch und mich im Laufe der nächsten Stunden noch einige Male beschäftigen. Was ich nicht wusste: In der neurologischen Notaufnahme werden oftmals auch psychiatrische Patienten aufgenommen. Im konkreten Fall macht das sofort Sinn: Der Mann wurde mit fast vier Promille Blutalkohol eingeliefert – dass er bei Bewusstsein ist, ist erstaunlich, dass er noch lebt, ein Wunder. Sonja Zölch erklärt mir, dass der Mann in der neurologischen Notaufnahme so lange unter Beobachtung verbleibt, bis sein Blutalkohol so weit gesunken ist, dass er in das Zentrum für Suchtmedizin nebenan verlegt werden kann.
Stationsarzt Dr. Thomas Grimm geht auf Visite. Gegen Mitternacht wird er dann die letzte Runde auf der StrokeUnit machen. Drei stationäre Patient:innen sind heute zu versorgen: Die beiden Frauen und der Herr sind Schlaganfallpatient:innen. Allesamt sind sie Senioren. Der männliche Patient macht einen einigermaßen rüstigen Eindruck. Er hatte eine „TIA“, eine vorübergehende Durchblutungsstörung im Gehirn (korrekt: Transitorische Ischämische Attacke), deren Symptome sich schnell zurückgebildet haben. Aber der ältere Mann ist ein Risikopatient und muss daher die gesamte neurologische Diagnostik durchlaufen.
Die beiden Frauen hingegen sind schwer betroffen. Frau L. ist linksseitig gelähmt, Frau P. hat Schwierigkeiten mit dem Sprechen und wirkt verwirrt auf mich. Drei Patient:innen plus der Herr in der Notaufnahme: Sonja Zölch meint, es sei ein selten ruhiger Abend mit ausgesprochen niedriger Belegung.
Der Monitor piept. Im Stillen denke ich mir, dass das mit dem „ruhigen Abend“ irgendwie nicht ganz hinhaut, denn seit meiner Ankunft sind wir ständig unterwegs. Der Trinker in der Notaufnahme läutet zum inzwischen dritten Mal – der Alkoholentzug setzt ihm zu. Er wirkt panisch, zittert, schwitzt stark. Sonja Zölch misst seinen Blutalkohol, bringt ihn erneut zur Toilette, holt ihm etwas zu essen, findet heraus, wo sein Portemonnaie abgeblieben ist – die Rettungsleitstelle hilft dabei. Wir bringen ihn schließlich in die Suchtstation nach HAUS 19, damit dort der Entzug begleitet werden kann. Assistenzärztin Tatjana Groß, die auf der Intensivstation Dienst hat, stellt einen entsprechenden Arztbrief aus. Ein kurzer Anruf bei den Sucht-Kolleg:innen und es geht los.
Schwester Ines passt in der Zwischenzeit auf Station 22A auf. Der Überwachungsmonitor zeigt: Ihre Epilepsie-Patientin sieht auf ihrem Notebook einen Film. Wir schieben den Patienten auf einem Rollstuhl durch die Gänge von Haus zu Haus. Für die Verlegung hätten wir auch einen Krankentransport anfordern können. Aber do-it-yourself geht in diesem Fall schneller. Es geht vorbei am Infocenter, wo heute Beate Brey Dienst tut, und dort treffen wir gleich auf den Wachmann vom Sicherheitsdienst. Er schließt sich uns an.
Wir sind zurück auf 22A. Ich merke, dass ich Hunger bekomme. Dabei habe ich nachts nie Hunger! Schwester Ines lacht laut und angelt sich selbst einen Müsliriegel aus ihrer Tasche. Nein: So schnell gebe ich dem Appetit nicht nach! Brauche ich auch nicht, denn der Monitor fiept. Der Schlaganfall-Patient hat sich „abgehängt“. Das heißt, dass er den Fingerclip zur Messung des Sauerstoffgehalts im Blut verloren hat. Sonja Zölch schaut – ganz leise und vorsichtig – im Patientenzimmer nach: alles in Ordnung, der Patient war nur im Bad.
Aber seine Zimmergenossin ist dabei aufgewacht. Frau P. muss auch auf die Toilette. Also wird sie entkabelt und vorsichtig aufgesetzt. Sonja Zölch transferiert die Patientin auf einen Toilettenstuhl, mit dem sie direkt über die Toilette gefahren werden kann.
Die Wachpause nutzt sie gleich, um Tests durchzuführen, die alle paar Stunden gemacht werden müssen: Temperaturmessen, Pupillentest, Monitorwerte am Krankenbett abnehmen. Schwester Zölch erklärt mir, dass vor allem die Symptombeobachtung wichtig sei; bei einer Verschlechterung müsse sie sofort die Dienstärztin verständigen.
Danach beginnt etwas, was mir auch nicht bewusst war: Papierkram. Sonja Zölch überträgt die ermittelten Werte in die Patientenakten. Dann macht sie weitere Einträge zu den einzelnen Pflegehandgriffen, die sie durchgeführt hat. Auch Pflegeleistungen müssen für die Abrechnung mit den Krankenkassen erfasst werden: PKMS – Pflegekomplex-Maßnahmen-Score nennt sich dies.
Es kehrt ein wenig Ruhe ein (selbst der Monitor piept ruhiger). Schwester Ines‘ Epilepsie-Patientin daddelt ausdauernd auf dem Handy. Jetzt esse ich meine mitgebrachte Brotzeit doch. Sonja Zölch nützt die Zeit und erklärt mir den Aufbau der Klinik nochmal.
Die Klinik hat drei Stationen in HAUS 22 und eine Poliklinik für Neurologie der Universität in HAUS 20. In der Poliklinik werden die Ambulanzen und Spezialsprechstunden angeboten – aber nur tagsüber.
Station 22A umfasst acht StrokeUnit-Betten, zwei Video-Langzeit-EEG-Betten und 16 Betten „Normalstation“. 22B ist eine der Intensivstationen der Klinik. Hier gibt es Betten, an denen Patient:innen hightechmäßig beatmet werden können. Aber auch Intermediate-Care-Betten finden sich hier: Das ist ein Zwischending zwischen den Hightech-Beatmungsbetten und den Normalbetten.
Einen Stock höher befindet sich die dritte Station der Klinik: 22C, eine allgemeinneurologische Station mit speziellen neuroonkologischen Betten. Sie verfügt über 16 Betten.
Ich brauche unbedingt eine Cola. Auf meinem Weg zum Getränkeautomaten bemerke ich, dass sich beim Infocenter einiges tut. Die Polizei hat in der Stadt einen Mann aufgegriffen, der wirr wirkt. Eine Polizeistreife kündigt den entsprechenden Krankentransport zum Bezirksklinikum an. Und der kommt auch schon: Es ist ein Rettungswagen des Roten Kreuzes. Jetzt wird es voll in der Eingangshalle, denn es fährt auch noch ein Taxi vor. Beate Brey erklärt mir, dass dringende Labortransporte nachts durch Taxis übernommen würden, da das medbo Labor nur tagsüber besetzt sei. Wie in einer Bahnhofshalle geht es jetzt zu. Das sei nichts Ungewöhnliches, meint Beate Brey. Ich trinke meine Cola und esse eine Banane.
Ich bin zurück auf Station 22B. Ganz still ist es jetzt, die beiden Krankenschwestern unterhalten sich ganz leise. Es habe eine Extubation gegeben, erzählt mir Sonja Zölch. Ein Patient mit Hitzschlag konnte von der Beatmung losgekoppelt werden. Das hätte ich gerne mitbekommen! Assistenzärztin Tatjana Groß übernimmt gerade die letzte Visite. Wieder trägt Schwester Sonja die Vitalwerte in die Patientenakten ein.
Die Epilepsie-Patientin schläft endlich – der Überwachungsmonitor hat auf Infrarot geschaltet, so dass das Bild in Grautöne getaucht ist. Aber der Vitalwert-Monitor piept penetrant: Der Schlaganfallpatient hat wohl auch eine Schlafapnoe, das heißt Atemaussetzer. Immer wenn seine Sauerstoffsättigung einen unteren Schwellenwert erreicht, gibt es ein Warnsignal. Aber man sieht, dass er nur einen Augenblick später wieder auf Normal ansteigt: Der Patient atmet wieder.
Frau L. ist auch aufgewacht und macht den Fingerclip ab. Sie hat schlimme Schmerzen, das viele Liegen geht ihr auf den Rücken und zusammen mit der Lähmung in ihrem Bein führt das langsam zu einer Versteifung der Muskulatur.
Sonja Zölch gibt ihr ein Schmerzmittel und bemerkt dabei, dass die Patientin auch Schwierigkeiten mit dem Schlucken hat. Das alles wird im Patientenbogen gleich notiert: Das seien wichtige Beobachtungen und Hinweise, die die Tagschicht später im Auge behalten müsse, erklärt sie mir.
Jetzt ist es auch gefühlt mitten in der Nacht. Meine Vitalwerte sind auf einem Tiefpunkt. Schlafen wäre jetzt eine echte Alternative. Zu Essen habe ich auch nichts mehr dabei.
Da hilft nur Beschäftigung, lacht Schwester Zölch. Wir machen Ablage. Laborberichte, Kurven, Korrespondenz, Arztbriefe – alles, was tagsüber so angefallen ist, wird jetzt ordentlich verräumt. Sonja Zölch heftet, ich loche.
Bei allem, was die beiden Nachtschwestern tun, sind sie ganz leise. Selbst jetzt bei der Ablage oder wenn sie in die Patientenzimmer schauen: Sie machen kein Licht, benutzen lieber eine kleine, schwache Taschenlampe – niemand soll aufgeweckt werden, wenn es nicht sein muss. Und ich erkenne: Müdigkeit macht schwerhörig, denn irgendwie piept der Monitor gar nicht mehr so laut.
Die Ablage ist durch. Jetzt werden alle möglichen Sachen vorkonfektioniert, die die Tagschicht später braucht: Spritzen für Blutentnahmen zum Beispiel. Aber Sonja Zölch macht auch sauber. Überhaupt: Irgendwie ist jeder dritte Handgriff der zum Händedesinfektionsmittel. Jedes Mal, wenn sie einen Patienten betreut hat, wird geputzt: Rollstühle werden abgewischt, Betten frisch bezogen und die Liegen desinfiziert, Klinken gesäubert, Verbrauchs- und Hygieneartikel entsorgt. Sonja Zölch braucht Unmengen von Einmal-Gummihandschuhen.
Und plötzlich ist er da: Ein Patient kommt in die Notaufnahme, samt Ehefrau und Fahrer. Ein Mann aus der östlichen Oberpfalz, der Doppelbilder sieht. Ärztin Tatjana Groß übernimmt gemeinsam mit Schwester Sonja die Anamnese. Es stellt sich heraus, dass der Mann vor einigen Wochen schon einmal Beschwerden hatte. (Ein Hinweis, bei dem ich sehe, wie bei Ärztin und Krankenschwester die Alarmglocken losgehen).
Wenn man ihn so anschaut, ist er ein Paradebeispiel für ein geballtes Bündel Schlaganfallrisiko: Übergewicht, starker Raucher, täglicher Bierkonsum, wenig Bewegung, hohes Cholesterin und auch noch beginnender Diabetes. Er hat riesiges Glück, dass er hier gelandet ist. Die Regensburger Neurologie ist nicht ohne Grund Koordinationszentrum des weltweit größten telemedizinischen Schlaganfallnetzwerks TEMPiS. Es gehe ihm jetzt aber wieder gut, meint er.
Ein TIA-Patient mit hohem Schlaganfallrisiko also, der einige Tage zur Beobachtung und Diagnostik hier bleiben wird.
Es läuft. Irgendwie ist es auf einmal wie in „emergency room“. Zur Erstdiagnostik, die auch während der Nacht gemacht wird, gehört eine Computertomographie des Schädels. Wir müssen mit dem neu aufgenommenen Patienten runter in die Neuroradiologie. Heidi Haas, medizinisch-technische Radiologie-Assistentin, hat diese Nacht Dienst. Trotz der nachtschlafenden Zeit macht sie ihren Job hellwach. Der Patient wird auf eine Liege gelegt und soweit verschoben, dass sein Kopf in einem Ring zum Stehen kommt. Bildgebende Verfahren sind sehr wichtig, da so schnell wie möglich festgestellt werden muss, ob die Beschwerden von einem (drohenden) Hirninfarkt oder einer (möglichen) Hirnblutung herrühren.
Der diensthabende Radiologe wird sich die Bilder anschauen. Danach entscheidet sich, welche Erstmaßnahmen durchgeführt werden. Der Patient hat aber gottseidank kein auffälliges CT. Ärztin Tatjana Groß verschreibt vorsichtshalber einen Thrombozytenaggregationshemmer, also ein Mittel zur „Blutverdünnung“ – wie der Laie sagt. Eigentlich hemmt es das Zusammenkleben der Blutplättchen. Dann wird dem Mann ein Zimmer zugewiesen und wenig später flimmern seine Vitalwerte auf dem Monitor im Stützpunkt der 22A – auch er hat eine Schlafapnoe. Der Monitor piept fleissig bei jedem Atemaussetzer.
Jetzt wird es traurig. Eine Patientin ist verstorben. Sonja Zölch ruft die Kollegin auf der 22C an und bietet ihre Hilfe an. Wir erfahren, dass die Frau unheilbar erkrankt war und ihr Tod nicht unerwartet kam. Die Angehörigen der Verstorbenen konnten sich verabschieden und haben die Station gerade verlassen. Jetzt muss der Leichnam in den Aussegnungsraum der Klinik gebracht werden. Sonja Zölch und die Nachtschwester aus 22C übernehmen dies. Ich stehe nur dabei, als das Bett mit der Toten in den Aufzug gefahren wird, und spreche ein stilles Gebet. Ja, im Krankenhaus wird auch gestorben.
Die normale Nachtschicht dauert bis 07.00 Uhr. Dann kommt die Ablösung durch die Tagschicht. Jetzt ist erst mal noch der Reinigungsservice zur Stelle. Zwei Kolleg:innen aus der Küche haben die Aufgabe, die Frühstückstabletts der Patient:innen vorzubereiten. Das bekomme ich alles nicht mehr mit, denn ich darf jetzt nachhause. Ich verabschiede mich von Schwester Sonja und Schwester Ines. Draußen wird es hell. In der Großküche fangen sie gerade an, das Mittagessen vorzubereiten. Die Vögel zwitschern. Ich bin hundemüde. Guten Morgen, medbo.
Hinweis: Dieser Beitrag erschien erstmals im medbo Unternehmensmagazin SYNAPSE, August 2017. Seither hat sich am medbo Standort Regensburg einiges getan. Insbesondere wurde der Fachbereich Neurologie neu geordnet und eine neue Zentrale Notaufnahme Neurologie & Psychiatrie eingerichtet. Trotzdem: Der Alltag - oder besser: die All-Nacht! - der Kolleginnen und Kollegen in der Nachtschicht ist und bleibt anspruchsvoll und fordernd, die nächtlichen Routinen sind weitestgehend gleich geblieben.
Bildnachweis: Zentrale Notaufnahme des medbo Bezirksklinikums Regensburg bei Nacht (Renate Neuhierl)