Wenn Kinder frühreif sind, Talente für verschiedene Themengebiete entwickeln und ihrem altersgemäßen Entwicklungsstand weit voraus sind, dann spricht man häufig von „Wunderkindern“. Aber was passiert, wenn genau das Gegenteil der Fall ist? Wie geht man mit Erwachsenen um, die den Entwicklungsstand eines Kindes haben?
In solchen Momenten greifen sehr häufig Vorurteile und leider fällt oft der Satz „Naja, die sind eben dumm.“ Doch damit begeht man einen großen Fehler. Denn dumm sind diese Patient:innen sicherlich nicht. Ganz im Gegenteil: „Die Patient:innen können die emotionalen Schwachpunkte oder Tagesstimmungen der Pfleger:innen hervorragend einschätzen und versuchen dieses Wissen auch für sich zu nutzen“, sagt Krankenpflegerin Steffi Fromm.
Sich emotional abgrenzen zu können ist deswegen äußerst wichtig. Man muss die Patient:innen professionell versorgen können, das heißt die Grundpflege wie Waschen, Anziehen und Essensunterstützung muss erfüllt sein, ebenso das medizinische Fachwissen über die jeweilige Krankheit und den richtigen Umgang mit ihr. Dabei darf man jedoch nicht zum Eisblock werden. Tobias Grün, Leiter der Station 11a am Bezirksklinikum Regensburg, fasst es sehr treffend zusammen: „Ohne Empathie bist du in der Pflege fehl am Platz.“
Um eine erfolgreiche Therapie zu gewährleisten, sollten sich die Patient:innen dem medizinischen und dem Pflegepersonal öffnen. Ohne Vertrauen und Herzlichkeit ist das nicht möglich. Die Patient:innen verbringen dabei die meiste Zeit mit den Pfleger:innen. Deswegen besteht zu ihnen häufig eine ganz andere Bindung als zur betreuenden Facharzt oder -ärztin.
Im Stationszimmer der 11a befindet sich eine große Übersichtstafel, die in Rechtecke für die verschiedenen Patientenzimmer aufgeteilt ist. Ein Foto erleichtert die schnelle Gesichts- und Namenszuordnung zu den Patient:innen. Auf dieser Tafel stehen wichtige Informationen wie Duschtage, besondere Erlaubnisse und die jeweiligen Bezugspfleger:innen. Zu ihnen haben die Patient:innen oft einen besseren Draht, als zu den anderen Pflegekräften und vertrauen ihnen lieber ihre Sorgen, Ängste und Nöte, aber auch ihre Wünsche und Hoffnungen an. Man könnte die Bezugspflegepersonen auch „Lieblingspfleger:innen“ der einzelenen Patient:innen nennen.
Die Patient:innen kommen mit Lernbehinderungen, Autismusspektrumstörungen oder mehreren festgestellten Diagnosen ins Bezirksklinikum. Angehörige oder Pflegeheime können den angemessenen Betreuungs- und Pflegeaufwand oft nicht mehr stemmen. Dabei ist es wichtig, Alltagsstrukturen für alle zu schaffen. „Für alle das Gleiche!“ gilt dabei trotzdem nicht immer. „Bei Patientin P. ist die paradoxe Intervention sehr erfolgreich“, sagt Tobias Grün. Das bedeutet, es tritt das Gegenteil vom Gesagten ein. „Wenn ich ihr zum Beispiel sage, sie kann ihre Socken nicht anziehen, dann zieht sie sich ganz schnell Socken an“, erklärt mir Grün. Bei anderen Patient:innen hat man mit dieser sonderpädagogischen Maßnahme überhaupt keinen Erfolg.
Einen Grundsatz gibt es dann aber doch: Grenzen setzen. Grauzonen lassen zu viel Interpretationsspielraum, der die meisten Patient:innen überfordert. In klaren Grenzen können sie gut agieren und entscheiden. Dabei lernen sie die eigenen Grenzen kennen und müssen auch die Grenzen anderer respektieren und akzeptieren.
Grenzen machen aber nun mal selten Spaß. Wenn es dann doch einmal zu einem Wut- oder Trotzausbruch kommt, ist für die Pflege das oberste Gebot, Ruhe zu bewahren. Die Pfleger:innen selbst sind nicht Ziel der Aggression. Diese Tatsache ist wie ein Mantra. Die Emotionen der Patient:innen müssen ein Ventil zum Druckablassen finden, da sie sie nicht aushalten oder regulieren können. Die Gründe dafür sind vielfältig. Was das heißt, erlebe ich gleich selber: Zum Mittagessen wird neben Geschnetzeltem mit Spätzle auch Pudding auf Station 11a geliefert. Patient B. hat den Pudding gesehen und will unbedingt welchen. Allerdings ist der Snack für später am Nachmittag eingeplant. Er fragt ständig nach, wann es Pudding gibt, denn er möchte ihn „JETZT!“.
Mit jeder Verneinung wird B. immer wütender, bis er schließlich mit der flachen Hand gegen die Wand schlägt und brüllt.
Tobias Grün ist mit seinen Kolleg:innen sofort zur Stelle. Sie legen sich mit B. nach dem Vier-Stufen-Immobilisationskonzept auf den Boden und reden leise auf ihn ein. Durch die körperliche Nähe und die ruhigen, aber bestimmten Worte dauert es nicht allzu lange, bis der Pudding vergessen ist. Manchmal reicht eine kleine Ablenkung, um den aktuellen Gedanken der Patient:innen zu durchbrechen. Möglichkeiten dafür sind ein kompletter Themenwechsel, indem die Patient:in nach den sonstigen Tagesplänen gefragt wird oder indem die Pflegekraft ihr/ihm kurz die Hand über die Augen legt. Über die Einfachheit der letzten Methode bin ich sehr erstaunt.
Nach dem Mittagessen haben die Patient:innen die Wahl, ob sie mit Heilpädagoge Alexander Listl in den Snoezelenraum gehen oder lieber basteln möchten. Ich will unbedingt erfahren, was ein Snoezelenraum ist. Es handelt sich um ein relativ kleines Zimmer. In der linken Ecke steht ein Wasserklangbett, unter das eine Bassbox eingebaut wurde. Dadurch können die Patient:innen Musik nicht nur hören, sondern tatsächlich spüren. Weitere Reize wie Lichterketten oder Klänge sollen Einfluss auf die Stimmung nehmen. Vier Patient:innen kommen mit in den Entspannungsraum. Listl spricht einzeln mit ihnen. Er empfiehlt ihnen, an etwas Schönes zu denken oder sich auf das Atmen zu konzentrieren.
Zwei Neulinge, die noch nie im Snoezelenraum waren, tun sich schwer damit. Sie sind unruhig und angespannt, aber nach einer Weile ändert sich das. Die Hände und Füße werden locker und auch die Gesichtsmuskeln entspannen sich. Listl erklärt mir, dass die Patient:innen ganz verschieden auf den Snoezelenraum reagieren. Normalerweise werden nicht mehr als zwei bis drei verschiedene Stimulationen gleichzeitig eingesetzt, um die Menschen nicht zu überreizen. Die Auswahl ist auch abhängig davon, was man sich von dem Raum erhofft. Sollen die Patient:innen beruhigt und ihr Gemüt besänftigt werden oder sollen sie aktiviert werden? Durch den richtigen Einsatz ist mit diesem Raum, der eigentlich unbeschrieben ist wie ein weißes, leeres Blatt Papier, alles möglich.
Die anderen Patient:innen haben derweil im Bastelraum Bio-Anzünder aus Holz gebunden, die später in Wachs getaucht werden sollen. Mit solchen Beschäftigungen werden die eigenen Fähigkeiten ausprobiert und die Alltagseignung getestet. Auch Wörterbilden mit dem Setzkasten ist eine beliebte Beschäftigung. Oft entdecken die Patient:innen dabei, dass sie trotz ihrer vielen Einschränkungen mit den Fingern sehr geschickt sind oder gut zeichnen können. Diese Erfolgserlebnisse geben ihnen das nötige Selbstbewusstsein, den Alltag zu meistern, und verdeutlichen der Pflege den Therapiefortschritt. Das bedeutet gleichzeitig auch, dass die Pfleger:innen bei der Persönlichkeitsentwicklung der Patient:innen immer ganz nah mit dabei sind. Ein anstrengender Weg, den nur Menschen mit der nötigen professionellen Herzlichkeit und herzlichen Professionalität begleiten können.
Bildnachweis: Hab-mich-lieb-Sessel im Snoezelenraum der Station 11a (Frank Hübler)