„Um ein Kind aufzuziehen braucht es ein ganzes Dorf.“ Dieses afrikanische Sprichwort birgt eine ganz essentielle Wahrheit: Wer ein Kind hat, braucht ein soziales Netzwerk, das Rückhalt bietet. Leider haben dieses Glück nicht alle Menschen.
Mein Weg führt mich heute in HAUS 27, auch als „Station Kartause“ bekannt. Sie ist in einem Gebäude des ehemaligen KartäuserKlosters am Bezirksklinikum Regensburg untergebracht. Dort befindet sich die stationäre und ambulante Rehabilitationseinrichtung für drogenabhängige Paare und Alleinerziehende. Das Besondere an dieser Station: Die Eltern sind dort nicht alleine untergebracht, sondern in Begleitung ihres Kleinkindes. Während meines Besuchs waren ausschließlich Mütter mit ihren Kindern vor Ort.
Krankenpfleger Alexander Weß führt mich durch die Einrichtung. Im schattigen Gemeinschaftsgarten steht ein Klettergerüst mit Rutsche und ein kleines Planschbecken zur Abkühlung. Bei über 30 Grad ist das auch dringend notwendig. Im ehemaligen Klostergebäude ist es angenehmer. Die vielen kleinen, verwinkelten Räume schaffen eine heimelige Umgebung. Auf dem großen Esstisch liegen verschiedene Zeitschriften, in der Küche trocknet Geschirr auf einem Abtropfgitter. Es wirkt mehr wie eine Wohngemeinschaft denn eine Reha-Station.
Eine Rehabilitation in HAUS 27 dauert mindestens fünfeinhalb Monate. Die Voraussetzungen, um hier aufgenommen zu werden, sind allerdings gar nicht so niedrigschwellig: Die Patientinnen müssen bereits einen ersten Entzug erfolgreich durchgeführt haben oder den Drogenkonsum ärztlich kontrolliert substituieren. Vor Behandlungsantritt muss die Hausordnung gelernt werden. Auf Verstöße folgen Konsequenzen. Diese Regeln schaffen Struktur, an der sich die Patientinnen entlanghangeln können.
In der Hausordnung spiegelt sich auch der Wohngemeinschaftscharakter der Station wieder. Die Patientinnen müssen im Wochenwechsel verschiedene Aufgaben wie die des Küchen oder Gartenpostens übernehmen. Die ständigen Absprachen schulen den gemeinschaftlichen und kooperativen Umgang miteinander. Die Therapie an sich verläuft in verschiedenen Stufen. Zuerst werden der Suchtverlauf und die Familiensituation genau analysiert, damit eine prophylaktische Rückfallbearbeitung stattfinden kann. Erst im Anschluss werden die Zukunftsperspektiven konkretisiert.
Viele suchtkranke Mütter kommen aus prekären Familienverhältnissen. Sie wurden missbraucht, misshandelt, vernachlässigt. Auf die Traumatisierung folgte die Alltagsflucht durch Drogen. So gerieten die Patientinnen schnell in einen Teufelskreis. Das Umfeld bestand nämlich wiederum zumeist aus Drogenabhängigen. Die Partnerschaften, die dabei entstanden, waren oft toxisch, und Schwangerschaften selten geplant.
Die Mütter stehen dann vor einer riesigen Aufgabe: Sie müssen ihr eigenes Leben in Ordnung bringen und dabei ein Kind erziehen. Das sichernde Sozialnetz fehlt jedoch. Durch ein fehlendes Vorbild in ihrer eigenen Kindheit wissen die Mütter nicht, wie sie erfolgreich Hürden im Leben überwinden, geschweige denn, wie sie ihr Kind erziehen können. Deswegen liegt der Fokus der Therapie in der Kartause auf den Müttern. Ihnen wird gezeigt, wie man Struktur im Alltag schafft und welche Erziehungsmethoden es gibt. „Nur wenn es den Müttern gut geht, kann das Wohl der Kinder langfristig gesichert werden“, bestätigt Krankenpfleger Weß.
Inzwischen sind die systemischen Netze so gut verknüpft, dass drogenabhängige Schwangere früh an Hilfeeinrichtungen verwiesen werden. Die medbo arbeitet eng mit der Regensburger Hedwigs-Klinik für Frauen- und Kinderheilkunde zusammen und während der Therapie müssen die Patientinnen an der Selbsthilfegruppe bei DrugStop e. V. teilnehmen. Dadurch soll frühzeitig der Kontakt außerhalb der Klinik gefestigt werden. So bleibt die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls nach Entlassung gering.
Um das Leben außerhalb der Klinik zu erleichtern, unterstützt das Team aus Pfleger:innen, Sozialpädagog:innen und Therapeut:innen die Patientinnen auch bei Amtsgängen oder der Schuldenregulierung. Es ist gar nicht so selten, dass die Mütter irgendwann aus Angst vor dem Inhalt aufhören, Briefe zu öffnen. So verstreichen verschiedene Fristen und Mahnungen häufen sich an. Gemeinsam mit dem Pfleger wird dieser große Briefberg geöffnet und sortiert. Häufig stellen die Patientinnen fest, dass es viele Briefe mit demselben Inhalt sind und die Angst vor dem eigentlichen Problem größer war, als das Problem selbst.
HAUS 27 erlaubt die Begleitung von Kindern bis zum Schuleintritt. Die Bedürfnisse der Kinder werden natürlich nicht außer Acht gelassen. Während Therapiesitzungen passt das Pflegeteam auf die Kinder auf, sofern sie noch keinen Platz im Kindergarten haben. Der Rehaaufenthalt ist auch für die Kleinen eine ungewöhnliche Situation. „Wenn die Kinder unserer Mütter verhaltensauffällig werden, verweisen wir sie an unsere Kinder- und Jugendpsychiatrie weiter“, betont Weß.
Als ich Station 27 wieder verlasse, turnt ein Junge auf der Rutsche herum. Die Sonne brennt heiß. Weß schickt den Jungen zu seiner Mutter, damit sie ihn mit Sonnencreme einreibt. Auf einem Bein hüpft der Junge ins Haus. Ich blicke ihm nachdenklich hinterher. Keine Mutter ist freiwillig drogenabhängig. Jede hat ihre eigene Geschichte. Das interdisziplinäre Team in HAUS 27 nimmt jeden Lebenslauf so an wie er ist. Ruhige und ehrliche Wertschätzung sowie ein kooperativer Gesprächston ermöglichen eine vertrauensvolle Therapiebasis. So können die Patientinnen während und nach der Therapie bestärkt und optimistisch mit ihren Kindern in die Zukunft blicken.
Bildnachweis: HAUS 27 am medbo Bezirksklinikum Regensburg (Frank Hübler)