Der innere (Seelen-) Arzt

Über Selbstwirksamkeit, Selbstheilung und den Einfluss von Information auf die Genesung: Psychoedukation.

Da ist dieses eigenartige Ziehen im Unterbauch, eine seltsame Zittrigkeit. Und eine ständige Müdigkeit! Was das wohl sein mag? Die richtige Information über die eigene Erkrankung spielt eine nicht unwesentliche Rolle im Genesungsprozess: Hier kommen Psychoedukation und Selbstwirksamkeit ins Spiel.

Ist mit unserem Organismus etwas nicht in Ordnung, initiiert er Heilungsprozesse und sorgt für die Produktion der nötigen Reparaturmaterialien – Zellen, Botenstoffe aller Art, Antikörper und viele mehr. Leider sagt es uns nicht in klaren Worten, was mit uns los ist, sondern sendet Signale: etwa Unwohlsein oder Schmerzen. Kurz: Es zeigt uns „Symptome“. Auch bei psychischen Erkrankungen schildern Patient:innen oft körperliche Beschwerden, die auf alles Mögliche hindeuten können. Beispielsweise Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Antriebslosigkeit. Da kann eine Erkältung ebenso im Anmarsch sein wie eine waschechte Depression. Sorgen und Ängste machen sich breit. Viele Menschen wollen Sicherheit und recherchieren in eigener Sache, was mit ihnen los sein könnte – am liebsten im Internet. Dort stoßen sie auf eine unerschöpfliche Zahl an mehr oder weniger seriöser Information. Plötzlich erweitert sich der Raum der Möglichkeiten ins Surreale. Und schnell schießen sich manche quasi auf diejenige mögliche Ursache ihrer körperlichen Beschwerden ein, die am meisten Angst macht: Ich habe bestimmt Alzheimer oder einen Tumor im Kopf!

Selbstheilungskräfte

Die Aussage „Der Doktor macht dich wieder gesund“ stimmt so eigentlich nicht. Denn es ist fast immer der menschliche Körper, der sich selbst heilt, und zwar – so die Fachwelt – bei ungefähr 90% aller Erkrankungen. Der menschliche Körper ist sein eigener „innerer Arzt“.

Aufgabe des „äußeren“ Arztes, also der medizinischen Expertise, ist im Grunde nicht die Behebung der körperlichen Dysfunktion oder eines Defizits. Vielmehr unterstützt und beschleunigt er mit seinem Handeln die Selbstheilungsarbeit des Körpers oder den Aufbau von Schutzmechanismen. Bei einer Schnittverletzung produziert unser Körper das zur Reparatur nötige Zellmaterial selbst – das Antiseptikum oder die Naht des Arztes sind alles Unterstützer dieses Selbstheilungsprozesses.

Bei einer psychischen Erkrankung sind in den meisten Fällen Gehirnstrukturen oder -prozesse nicht mehr intakt oder im Ungleichgewicht. Das Gehirn ist allerdings in der Lage, etwa mit neuen organischen oder biochemischen Verbindungen „Umleitungen“ oder „Ersatz“ zu schaffen. Der Arzt hilft dem Gehirn durch geeignete therapeutische „Gehirn-Trainingseinheiten“ oder Medikamente, solche Umstrukturierungsprozesse zu befördern. Aber wie interagieren der „innere“ und der „äußere“ Arzt? Gibt es einen Transmissionsmechanismus zwischen innen und außen?

Selbstwirksamkeit

In Psychiatrie und Psychotherapie gibt es viele präventive und therapeutische Ansätze, bei denen ein Begriff immer zentral ist: die Selbstwirksamkeit. Wenn Patientin und Patient an die Therapie, ihre Genesung und im Grunde an sich selbst glauben, kann dies für die Heilung von großem Vorteil sein. Information spielt hier eine zentrale Rolle. Das ist durchaus wissenschaftlich untersucht – und zwar wie folgt:

In der Medizin gibt es zwei spannende Effekte, die zeigen, wie sehr die Psyche über den Transmitter „Information“ auf die Selbstheilungskraft des Körpers Einfluss nimmt: Placebo und Nocebo. Sichtbar werden sie in Studien zur Medikamentenwirksamkeit, bei denen einem Teil der Proband:innen wirkungslose Scheinmedikamente („placebo“, lateinisch: ich werde gefallen) verabreicht werden. Der andere Teil erhält hingegen echte Medikamente. Keine:r der Proband:innen weiß, zu welcher Gruppe man selbst gehört. Die Abweichungen in den Ergebnissen beider Gruppen sind nicht zuletzt ein Indikator für die Gesundheitsbehörden, ob ein neues Medikament gut wirkt und zugelassen werden könnte.

Beim Nocebo-Effekt (lateinisch: ich werde nicht gefallen) entwickelt der Patient negative somatische Reaktionen auf ein an sich wirksames Medikament, die jedoch keine ursächlich dem Medikament zugeschriebenen (erwünschten) Wirkungen oder (unerwünschten) Nebenwirkungen sind.

Erwartung und Konditionierung

Ein wesentlicher Punkt bei Placebo/Nocebo-Studien ist zuvorderst die Erwartungshaltung der Patient:innen bezüglich des eigenen Genesungsprozesses. Etwa ein Drittel spricht laut einer der ersten und wichtigsten Placebo-Studien von H.C. Beecher aus dem Jahre 1955 auf orale Scheinmedikamente wie Tabletten oder Tropfen an. Bei invasiven Methoden – etwa Injektionen, operative Eingriffe – sind die Wirksamkeitsraten teilweise noch höher (zum Beispiel M. Relja et. al. im Jahr 2007 zum Einsatz von Botulinumtoxin bei Migränepatienten).

Für die auftretenden körperlich-organischen Effekte der Patient:innen macht Beecher vor allem psychische, weniger aber persönlichkeitsbasierende Faktoren verantwortlich. Erwartungen an die Wirksamkeit einer Therapie spielen hier eine Rolle, aber auch Konditionierung. Das heißt, dass beispielsweise allein über die regelmäßige Gabe einer „Tablette“ ein Reiz gesetzt und erlernt werden kann, der ein Reaktionsmuster im Gehirn auslöst: „Weiße Tablette“ wird dann vielleicht unterbewusst gleichgesetzt mit „Kopfschmerzfreiheit“. Oft kann schon allein der Anblick einer Pille bei diesen Patient:innen den Schmerzlevel herabsetzen.

Wie verknüpft sich jetzt die Theorie um Placebo/Nocebo, die Bedeutung von Erwartung und Konditionierung mit dem Thema Selbstwirksamkeit und Selbstheilungskräfte?

Die richtige Information zur richtigen Zeit

Unsere Erwartungshaltung und konditionierten Erfahrungen sind – so viel wissen wir bis zu diesem Punkt – Eckpunkte unserer Genesungs- und Selbstheilungsprozesse: Vertrauen versus Zweifel, Zuversicht versus das mulmige Gefühl im Bauch. „Self fulfilling prophecy“, also die sich selbst erfüllende Prophezeiung, nennt die Psychologie dieses Phänomen. Und Selbstwirksamkeit korreliert mit der eher optimistischen Grundhaltung: Ich vertraue darauf, dass diese Therapie mir hilft und sich meine Beschwerden lindern werden. Welche Rolle spielt dabei schon, ob ich weiß und begreife, was in der Therapie mit mir geschieht? Eigentlich müsste ich ja nur auf das Können des „äußeren Arztes“, des „Halbgotts in Weiß“ vertrauen – er hat mir ja vielleicht früher auch schon erfolgreich geholfen … Hier findet sich Interessantes in einer Studie von T.J. Luparello, N. Leist et al. aus dem Jahr 1970:

Eine Gruppe Asthmapatient:innen wurde mit einem bronchienerweiternden, eine zweite Gruppe mit einem sogar bronchienverengenden Medikament behandelt. Dann wurden Lungenvolumen und Luftstromstärke gemessen, wobei einem Teil der Patient:innen gesagt wurde, welches Medikament sie tatsächlich bekommen hatten. Der andere Teil wurde „angeschwindelt“. Die Forscher:innen kamen zu zwei grundlegenden Erkenntnissen: Einmal wirkten die Medikamente besser bei den Patientinnen und Patienten, die Bescheid wussten, was man ihnen verabreicht hatte. Aber sensationell war das zweite Ergebnis: Diejenigen Patient:innen, die das Bronchien verengende Medikament geschluckt hatten, aber glaubten, man hätte ihnen das Bronchien Erweiternde verabreicht, zeigten tatsächlich verbesserte Werte. Und vice versa. Das Vertrauen oder die Erwartungen eines Patienten in die Wirksamkeit einer Therapie kann also unter Umständen sogar die negativen Wirkungen eines „falschen“ Medikamentes ausgleichen. Die positive Erwartungshaltung beflügelt die Selbstheilungskräfte.

Psychoeduktion: Denn sie wissen, was sie tun

Wir wissen nun: Beruhigende und verlässliche Information hilft bei der Genesung, denn sie unterstützt die Selbstwirksamkeit der Patient:in, also die Tendenz zu Optimismus und Selbstvertrauen. Das braucht es, damit das Gehirn – nicht zuletzt die Psyche – eines Patienten das volle Selbstheilungspotential entwickeln kann. Je mehr verlässliches Wissen der Mensch über seine Diagnose und die Wirkungsweisen der vorgeschlagenen Therapien bekommt, umso weniger angstbesetzt und umso zuversichtlicher kann er mit der Erkrankung umgehen. Ärzt:innen und Therapeut:innen sind hier gefordert, nicht nur die geeignete, richtige und wohldosierte Information zu definieren: Es soll ja keinesfalls ein Nocebo-Effekt provoziert, aber hoffentlich die Selbstwirksamkeit des Patienten angeregt werden. Das spricht sehr für den Arzt aus Fleisch und Blut und weniger für das Internet.

Einfach Bescheid wissen

Gezielte Psychoedukation, also die Vermittlung des Wissens über die eigene (psychische) Erkrankung durch medizinische und therapeutische Expert:innen, ist ein wesentlicher Ansatz in Psychiatrie & Psychotherapie: Woher kommt meine Erkrankung? Welche Ursachen hat sie möglicherweise? Wie äußert sie sich? Und wie wirken die verschiedenen therapeutischen Maßnahmen überhaupt, etwa Medikamente, Gesprächs- oder Verhaltenstherapien? Wie verläuft die Erkrankung und kann ich sie völlig überwinden? Welche Rückfallrisiken bestehen und was kann ich in diesen Fällen tun? Vor allem transportiert Psychoedukation eine Botschaft: Psychische Krankheiten sind Erkrankungen des Gehirns, also eines Organs. Sie sind nicht eingebildet, schräg oder unnormal. Und sie sind heilbar, in der Regel sogar sehr gut. All dies sind übrigens Fragen, die nicht nur für die Patient:innen, sondern auch für deren soziales Umfeld wichtig sind. Aus diesem Grunde gibt es bei der medbo auch für Angehörige Psychoedukations-Programme.