Ein lauer Sommerabend im August 2020. Endlich Feierabend. Hinter Stefan Günther liegt ein anstrengender Arbeitstag. Noch immer schwirrt dem Leiter des medbo Controllings die neue Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie – kurz PPP-RL – durch den Kopf. Kein Wunder. Das letzte Arbeitsgruppen-Treffen liegt nur wenige Stunden zurück. Wieder einmal haben Stefan Günther, Ramon Krüger (Leiter Medizincontrolling am LVR Klinikum Düsseldorf) und ihre Mitstreiter versucht, in die Untiefen der neuen Richtlinie einzutauchen. Denn hierin wurden Anfang 2020 die personellen Mindestvorgaben für die stationäre psychiatrische Versorgung festgelegt und sehr detailliert definiert, welche Aufgaben durch welche Berufsgruppe durchgeführt werden dürfen. Damit gehen völlig neue Planungs- und Steuerungsnotwendigkeiten einher. Zudem wird ein kleinteiliges Nachweisverfahren gefordert. Umfassende Daten müssen innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung stehen, wofür aufwändige Berechnungen notwendig sind.
Um diesen klinischen und administrativen Veränderungsprozess umzusetzen, eigneten sich die Controlling-Experten mühevoll Wissen zu der PPP-Richtlinie an und entwickelten Instrumente. „Alleine ist man dabei aufgeschmissen“, davon sind die beiden überzeugt. Doch als Stefan Günther seinen Arbeitstag Revue passieren lässt, schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf: „Diese Herausforderungen betreffen alle Psychiatrien in ganz Deutschland. Warum also nicht unsere Erkenntnisse teilen?“ Die Idee für das erste Praxishandbuch zur Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) war geboren.
Nur sechs Monate später wird die erste Auflage ausgeliefert. In Zusammenarbeit mit 40 Co-Autoren ist ein 500-seitiges Werk entstanden. Mit-Herausgeber und #medboianer Stefan Günther im Interview.
Günther: Die Richtlinie wird ja in der Psychiatrie-Szene sehr kontrovers gesehen und diskutiert. Ich finde das Thema aber total spannend, weil hier grundsätzlich etwas Gutes passiert. Es wird versucht die Qualität der psychiatrischen Versorgung zu stärken und zu verbessern. Die Psych-PV war wirklich gut und sehr durchdacht, wurde aber 30 Jahre lang nicht mehr aktualisiert. Es war also höchste Zeit sich mit dem Thema auseinander zu setzen.
Günther: Ich finde es gibt viele Inhalte und Vorgaben über die jetzt gesprochen werden sollte. Aber das liegt auch in der Natur der Sache. Die Richtlinie wurde in der Theorie erarbeitet und muss nun in der Praxis erprobt und dementsprechend weiter diskutiert, überprüft und entwickelt werden. Denn sie ist handwerklich noch nicht wirklich ausgereift, das Regelwerk viel zu komplex und wichtige Versorgungsaspekte bleiben gänzlich unbeleuchtet. Wir müssen aktuell dafür kämpfen, das aus einer an sich guten Idee nicht eine Verschlechterung der Versorgung resultiert. In diesem Spannungsfeld mitzuwirken hat mir schon viele interessante Einblicke in die psychiatrische Versorgungsrealität gebracht. Ich wünsche mir auch, dass die Politik sich mehr damit auseinander setzen würde um die drohenden Gefahren der Richtlinie zu erkennen.
Günther: Die moderne Psychiatrie geht in Richtung settingunabhängige Behandlung. Sprich: Von der Aufnahme über die Therapie bis hin zur Nachsorge haben Patient:innen eine:n gleichbleibende:n Ansprechpartner:in als Betreuer:in. Nach den starren Vorgaben der PPP-Richtlinie ist das aber gar nicht möglich. Zum einen wurden die über 30 Jahre alten Minutenwerte – also Angaben, über welchen Zeitraum eine bestimmte Tätigkeit andauern kann – nur pauschal angepasst.
Zum anderen werden bestimmte Berufsgruppen gar nicht oder nicht umfassend genug berücksichtigt. Die Entwicklung des Pflegeberufs aus den letzten 30 Jahren finden Sie aktuell nicht in der Richtlinie abgebildet. Genauso wie den wichtigen Einsatz von Hilfs- oder Service-Personal auf Station. Erst durch deren Unterstützung ist es für examinierte Pflegekräfte möglich, die Zeit für Therapie- und Behandlungsangebote am und mit den Patient:innen zu finden.
On-Top kommt der bürokratische Zusatzaufwand, den die PPP-Richtlinie verlangt. Die neue Nachweisführung ist sehr aufwendig. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich halte es für wichtig, Nachweise über den Personaleinsatz zu führen und transparent zu arbeiten. Nur muss so ein Verfahren trotzdem in der Praxis noch umsetzbar sein und darf die Therapiezeit nicht beschneiden.
Günther: Es gibt drei Möglichkeiten: Es könnte mehr Fachpersonal eingestellt werden. Theoretisch. In der Praxis ist das aber leichter gesagt als getan. Der Arbeitsmarkt ist bekannterweise leer. Doch nur so könnte das Ziel der Richtlinie auch tatsächlich erreicht werden: Mehr Qualität in der Psychiatrie.
Die übrigen Möglichkeiten, die aus der PPP-Richtlinie resultieren, würden das genaue Gegenteil bewirken. Die Kliniken könnten nämlich alternativ auch Behandlungskapazitäten reduzieren müssen. Dadurch würde aber unsere Versorgungsstruktur geschwächt. Die dritte Option wäre die wirtschaftlich schlechteste: Enorme Sanktionen in Kauf zu nehmen. Das kann aber viele Kliniken in existenzielle Schwierigkeiten bringen und letztlich ruinieren.
Günther: Unser Buch hat zwei wichtige Botschaften. Zum einen wollen wir die Rahmenbedingungen näher erklären und einen Handlungsleitfaden mit vielen Tipps an die Hand geben. Wie schon erwähnt: Die Umsetzung ist alles andere als selbsterklärend, daher möchten wir und unsere Co-Autoren unsere bisherigen Erkenntnisse mit allen Betroffenen teilen. Wir haben dafür auch ein spezielles Excel-Tool entwickelt und bieten Vorträge zu diesem Thema an.
Und natürlich möchten wir sachliche Diskussionen anregen, welche Stolpersteine sich in der Realität, in der praktischen Umsetzung der Richtlinien ergeben.
Günther: Das stimmt. Ab dem 01. Januar 2022 drohen einschneidende Sanktionen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Das Projekt in so kurzer Zeit umzusetzen war nur durch die tolle Zusammenarbeit mit meinem Mitherausgeber und unseren 40 Co-Autoren möglich. Alle lieferten ihre Ideen und Beiträge absolut schnell, kompetent und verlässlich. Für ein solches Projekt ist das außergewöhnlich, das haben uns auch erfahrene Herausgeber bestätigt. Außerdem hatten wir große Freiräume und tatkräftige Unterstützung durch unseren Verlag.
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Deutschlands erstes Praxishandbuch zur Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) kommt von dem Leiter des medbo Controllings Stefan Günther - Foto: medbo / Johannes Müller
Hinter den Kulissen funktioniert die moderne Psychiatrie wie ein Uhrwerk. Von der Aufnahme über die Behandlung bis hin zum Entlassmanagement: Ein:e Patient:in durchläuft mehrere Phasen im Behandlungszyklus. Auf Klinik-Seite arbeiten dafür zahlreiche Expert:innen Hand in Hand. Qualität ist hier seit jeher das oberste Ziel.
Bislang war dafür die sogenannte Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) das Maß der Dinge. Eine wissenschaftlich fundierte Richtlinie, die zu ihrer Einführung als innovativ gefeiert wurde. Andere Länder blickten damals neidvoll auf die Bundesrepublik. Das ist mittlerweile nun über 30 Jahre her. In der psychiatrischen Versorgung hat sich seither einiges getan: Akademisierung der Pflege oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenes Fachgebiet sind nur zwei Beispiele von vielen. Doch die Psych-PV blieb weitgehend unverändert. Ein neues, zeitgemäßes Regelwerk, dass bundeseinheitliche Qualitätsstandards verbindlich festlegt, war längst überfällig.
Dieser Meinung war auch der Gesetzgeber, weswegen er den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit einer neuen Richtlinie beauftragte. Durch das Engagement des höchsten Beschlussgremiums der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen konnte so am 01. Januar 2020 die neue Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) Inkraft treten. Welche Berufsgruppe ist für welche Aufgabe vorgesehen? Wie viele Köpfe sind dafür einzuplanen? Und wie lange dürfen die Kolleg:innen für bestimmte Tätigkeiten brauchen? Diese Fragen werden nun verbindlich beantwortet.