Es „mit den Nerven haben“, „jemandem auf die Nerven gehen“: Volkes Mund weist schon darauf hin, dass es eine Verbindung zwischen Psyche und dem menschlichen Nervensystem gibt. Der Silbersurfer will es genauer wissen und fragt Dr. Markus Wittmann, den Ärztlichen Direktor des Bezirksklinikums Wöllershof.
Dr. Wittmann, Nervenzellen und Nervenbahnen, peripheres und zentrales Nervensystem: Das sind erstmal körperlich-organische Begriffe. Aber kann ein Mensch einem anderen wirklich „auf die Nerven gehen“?
W.: Nun, jemandem „auf die Nerven zu gehen“ ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Jeder von uns ist schon einmal jemandem auf die Nerven gegangen. Und es gibt Tage, an denen die Schwelle sehr gering sein kann, bei der man auch uns „auf die Nerven geht“. Auf neurobiologischer Ebene haben wir „Reizfilter“ im Gehirn, die dafür sorgen, dass unser „Bewusstsein“ auf Ebene der kortikalen Reizverarbeitung nicht zu vielen oder störenden Reizen ausgesetzt ist. Diese Reizfilter können bei verschiedenen psychischen Erkrankungen, aber auch unter chronischem Stress in ihrer Funktion beeinträchtigt sein.
Alles eine Frage der Filter?
W.: Natürlich gibt es Schlüsselreize, die aufgrund unserer Erinnerung oder Konditionierung unsere Reizschwelle besonders beanspruchen. Neben der reinen Überempfindlichkeit bei lauten Geräuschen (Hyperakusis) beispielsweise gibt es die sogenannte „Misophonie“, bei der bestimmte Geräusche, etwa Essgeräusche wie Schmatzen oder Schlürfen, als besonders störend wahrgenommen werden. Dieses Syndrom wird auch als „Selektive Geräuschintoleranz“ bezeichnet, was die meisten unter uns vielleicht nachvollziehen können, wenn sie sich vorstellen, jemand kratzt mit den Fingernägeln an einer Tafel herunter.
Wie hängen Gehirn und Psyche zusammen? Ist ein Vergleich mit Hard- und Software eines Supercomputers hilfreich?
W.: „Psyche“ bezeichnet, vereinfacht formuliert, die Summe aller geistigen Eigenschaften inklusive überdauernder Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen. Allerdings haben sich mit wachsendem Wissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns viele Fragen aufgetan, die zwar zunehmend Beantwortung finden, aber dennoch gezeigt haben, wie komplex dieses Organ aufgebaut ist. Natürlich kann man sehr stark vereinfachend das Gehirn mit einem Computer vergleichen, auch dieser hat beispielsweise ein „Kurzzeitgedächtnis“ (= RAM) oder ein Langzeitgedächtnis (= Festplatte). Entscheidend für das Verständnis ist jedoch, dass es – im Gegensatz zum Computer – zwei verschiedene Systeme in unserem Gehirn gibt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das eine System repräsentiert die Gefühle, Sehnsüchte, Lust, Genuss, Wut, Hass, kurz: unser emotionales System. Dieses System ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt und hinsichtlich seiner Rechenleistung im Gehirn sehr mächtig.
… Und das andere geht in Richtung Vernunft?
W.: Genau. Das zweite System steht für die „Ratio“, was entwicklungsgeschichtlich am Ehesten durch die sechsschichtige Gehirnrinde repräsentiert wird, worüber wir uns von anderen Primaten unterscheiden. Die Rechenleistung hierfür ist gar nicht so groß wie man hoffen möchte. Daher sind wir hinsichtlich unserer psychischen Stabilität und Fertigkeiten sehr darauf angewiesen, dass wir im Laufe unseres Lebens viele funktionelle Automatismen ausbilden können, etwa beim Autofahren oder Musizieren, und dass unser emotionales System sich gut steuern lässt.
Was kann beim Zusammenspiel von Gehirn und Psyche schiefgehen oder falsch laufen?
W.: Natürlich kann, wie bei einem Computer, alles hinsichtlich seiner Funktion beeinträchtigt sein. Somit kann auch alles schieflaufen. Grundsätzlich können Störungen bei den Nervenleitungen und den Nervenzellen, die beispielsweise durch Entzündungen, Tumoren oder Infarkte im Gehirn ausgelöst werden, zu im Wesentlichen neurologischen Symptomen führen, etwa zu Lähmungen. Störungen des Nervenstoffwechsels oder Veränderungen im Bereich der Botenstoffe hingegen führen meistens zu psychischen Symptomen. Es gibt hier aber so viele Überlappungen, dass man dies nicht auf ein einfaches Modell reduzieren kann.
Wie zeigt sich dies dem Psychiater?
W.: Leider leiden viele unserer Patienten an psychischen Veränderungen, die ihren Beginn schon in der Kindheit hatten und zwar so früh, dass das rationale System nur wenig Möglichkeiten hatte, die Steuerung über das emotionale System zu lernen. Dies wirkt sich dann später in massiven Gefühlsschwankungen aus, in Affektausbrüchen oder Suchterkrankungen und entspricht dem, was wir fachlich als „Persönlichkeitsstörung“ bezeichnen, wobei dieser Begriff für viele Betroffene nachvollziehbar stigmatisierend wirkt.
Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen einer „Neurose“ und einer „Psychose“?
W.: Ganz vereinfachend formuliert ist eine Neurose eine Störung im Verhalten oder der sozialen Interaktion, die durch Erziehung oder Erlebnisse erworben wird und zumeist einer Psychotherapie zugänglich ist (etwa Höhenangst, Zwangsneurose). Der Begriff der Psychose repräsentiert alle Zustände, bei denen es zumeist aufgrund von Störungen im Gehirnstoffwechsel zu Veränderungen im Realitätsbezug oder der Realitätsbeurteilung kommt (beispielsweise Verfolgungswahn). Psychosen werden vorwiegend pharmakologisch behandelt, aber sowohl für Psychosen als auch Neurosen ist, vor allem bei schweren Formen, oft der Mix aus Pharmako- und Psychotherapie sinnvoll.
Und was passiert im Gehirn bei einer Depression?
W.: Es gibt für Depressionen ein sehr vereinfachendes Modell, die sogenannte „Monoaminmangelhypothese“. Diese führt die Entstehung von Depressionen im Wesentlichen auf den Mangel von bestimmten Botenstoffen im Gehirn zurück, Serotonin und Noradrenalin. Dieses Modell greift allerdings zu kurz: Depressionen werden heutzutage als Veränderungen im Gehirnstoffwechsel verstanden, bei denen es zumeist durch anhaltenden Einfluss von Stress jedweder Art zu Veränderungen kommt. Betroffen ist hier nicht nur der Stoffwechsel der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin. Auch andere Botenstoffe wie Dopamin oder Glutamat und auch die Produktion von so genannten Neurotrophinen wie beispielsweise BDNF. Das ist ein Protein, das für die Neuroregeneration und Neuroplastizität von entscheidender Bedeutung ist.
Wie kann das Zusammenspiel Psyche und Nerven/Gehirn wieder ins Lot gebracht werden?
W.: Das Gehirn verfügt bei vielen psychischen Erkrankungen wie beispielsweise Ängsten oder Depressionen bis in das hohe Alter über erstaunliche Möglichkeiten der Erholung. Allerdings gilt für fast alles, was dem Gehirn an Reizen dargeboten wird: Je öfter ein Reiz oder ein Zustand im Gehirn auftritt, desto mehr verfestigen sich diese Zustände. Dies betrifft positive Reize wie Erfolgserlebnisse genauso wie negative, etwa Schmerzerfahrungen oder Kränkungen. Um eine chronifizierte Depression wieder zu heilen, braucht es verschiedene therapeutische Bausteine und diese möglichst gleichzeitig, damit sich nicht-depressive Zustände wieder verfestigen können. Zum Beispiel eine spezielle Psychotherapie für chronische Depressionen (etwa CBASP), eine pharmakologische Mehrfachtherapie und spezielle tagesstrukturierende Maßnahmen.
Was passiert in Ihnen biologisch, wenn ich Ihnen eine kluge Frage stelle, und was bei einer weniger klugen?
W.: (Lacht) Wenn Sie mir eine weniger kluge Frage stellen, aktivieren Sie in mir vermutlich eher das emotionale System. Ich würde – aller Voraussicht nach – ein Höflichkeitsverhalten aktivieren und Ihnen zunächst erwidern, dass es keine dummen Fragen gibt, sondern nur dumme Antworten. Dann würde ich mein rationales System aktivieren und versuchen, eine möglichst rationale Antwort zu bilden.
Wenn Sie mir hingegen eine sehr kluge Frage stellen, würde ich zunächst mein rationales System aktivieren und Ihnen eine möglichst kluge Antwort zu geben versuchen. Danach würde ich, vor allem wenn meine Antwort unzureichend wäre, mein emotionales System aktivieren, um in mir das Gefühl zu erzeugen, dass mir eine dumme Frage im Nachhinein wesentlich lieber gewesen wäre.
Vielen Dank, Dr. Wittmann!