Derzeit werden Begrifflichkeiten wie E-Health, Digitalisierung oder Telemedizin fast inflationär verwendet. Ein riesiger Innovationsdruck scheint sich über unserer Gesellschaft aufzubauen – mit allen Vor- und Nachteilen: vor allem auch für das Gesundheitssystem.
Datenaustausch versus Datenschutz, Patientenrechte versus Versorgungsverbesserung, Versorgungserleichterung versus Arbeitsplatzverlust: die möglichen Vorzüge und die damit verbundenen Ängste scheinen unüberschaubar geworden zu sein. Doch E-Health hat längst in unser Gesundheitssystem Einzug gehalten.
Die Palette der möglichen Anwendungen ist breit: Telemedizinische Anwendungen können helfen, Patient:innen über große Distanzen mit den Behandler:innen zu verbinden. Das können Audio-/Videogespräche, die Übertragung von Behandlungsdaten, Alarmfunktionen bei Notfallsituationen oder Hilfestellung von Expert:innen an fernen Standorten zur Verbesserung der Versorgung bei schwierigen Fallkonstellationen sein.
Derzeit werden auch immer mehr „Apps“, also Softwareprogramme für Smartphones, Tablets oder Computer, entwickelt, um den Patienten orts- und zeitunabhängige individuelle Hilfestellungen zu geben. Komplexere Anwendungen finden sich in Operationsumgebungen, beispielsweise um Operateure bei Eingriffen in schwer zugänglichen Operationsfeldern zu unterstützen.
Auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz führt zu einer immer besser werdenden Vorhersagbarkeit von Krankheitsverläufen.
Doch für die Entwicklung und Umsetzung von E-Health-Anwendungen ist oft eine große Zahl von Daten nötig. „Big Data“ oder „Datensammelwut“ stehen symbolisch für die Gefahren, die mit der Digitalisierung unweigerlich in Verbindung gebracht werden.
Die Datenpannen, die immer wieder an die Öffentlichkeit gelangen, stärken das Vertrauen der Bevölkerung in die Technologie nicht gerade. Können wir uns ausreichend gegen Datenmissbrauch schützen?
Gerade in der Medizin stellen alle Patientendaten ein besonders schützenswertes Gut dar.
Durch das Inkrafttreten der neuen Datenschutzgrundverordnung innerhalb der EU wurden neue Standards für den Umgang mit persönlichen Daten geschaffen. Vor allem die Entscheidung, was mit persönlichen Daten passiert, soll nach Möglichkeit umfassend in der Hand der Betroffenen selbst liegen.
Das 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetzt gibt zusätzlich allen Patient:innen das Recht auf vollständige Einsicht in ihre Daten.
Insgesamt betrachtet sind die Datenschutzstandards in Deutschland – vor allem im internationalen Vergleich – besonders hoch. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es dennoch nicht. Jede:r Einzelne muss selbst entscheiden, inwieweit er oder sie an neuen E-Health-Technologien partizipieren und damit auch der Freigabe und Übertragung der nötigen Daten zustimmen möchte.
Die Perspektiven von E-Health erscheinen jedoch zurecht im wörtlichen Sinn heilsversprechend: Entscheidende Verbesserung in der Therapie und im Verständnis von bislang nicht heilbaren Erkrankungen scheinen greifbar.
Im klinischen Alltag eröffnen sich vor allem für ältere Menschen neue Möglichkeiten – unabhängig von vorhandenem oder fehlendem technischen Knowhow: Altersgerechte Assistenzsysteme unterstützen hilfsbedürftige Menschen bereits jetzt in ihrem Alltag zu Hause.
Zukünftige Entwicklungen werden es ermöglichen, dass Menschen in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können, die derzeit noch in Pflegeeinrichtungen untergebracht werden müssen, obwohl sie noch einen Rest von Eigenständigkeit besitzen.
Durch technische Systeme kann die Zuverlässigkeit der Medikamenteneinnahme überwacht werden, durch Gadgets wie smarte Armbanduhren können Vitalwerte gemessen und übertragen werden. Durch Robotiksysteme können zukünftig Aufgaben in Haushaltsführung und Unterstützung bei pflegerischen Tätigkeiten übernommen werden, was bei bestehendem Fachkräftemangel eine willkommene Unterstützung zu sein scheint.
Doch wollen wir das? Ist der persönliche Kontakt von Mensch zu Mensch überhaupt ersetzbar? Rationalisieren wir uns weg? Ist es ethisch vertretbar, Menschen durch Maschinen zu ersetzen, um anderen Menschen ein „menschenwürdiges“ Dasein zu ermöglichen?
Nun, dies hängt letztendlich auch von unserem kulturellen Verständnis ab.
In der japanischen Kultur beispielsweise verkörpern Roboter „das Gute“, von vielen wird Robotern sogar eine Seele zugestanden. Auch in westlichen Kulturen durchgeführte wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass wir in der Lage sind, relativ rasch zu technischen Geräten, die mit uns in Beziehung treten, in Interaktion zu treten und eine Beziehung aufzubauen.
Für die weitere Entwicklung von E-Health-Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen werden all diese Erkenntnisse, Meinungen, Hoffnungen und Vorbehalte zukünftig eine bedeutende Rolle spielen – unabhängig der objektiven Möglichkeiten von E-Health.
Die Gesundheitsversorgung wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit in einem bislang beispiellosen Veränderungsprozess befinden. Und auch Artikel wie dieser könnten zukünftig durch eine künstliche Intelligenz erstellt werden.
Werden Sie den Unterschied feststellen? Auch hierzu gibt es derzeitige technische Entwicklungen, die die Beantwortung dieser Frage in nicht allzu ferner Zukunft mit einem „Nein“ rechtfertigen.
Dr. med. Markus Wittmann, MHBA, ist Ärztlicher Direktor des medbo Bezirksklinikums Wöllershof.