Viele betreuende Verwandte werden uns an diesem Punkt zustimmen: Aufgrund des Krankheitsbildes und der damit einhergehenden Merk- und Denkfähigkeitsstörung sind Patienten mit fortgeschrittener Demenz in der Regel nicht absprachefähig – sie laufen weg, sobald sie eine offene Tür finden, egal ob zuhause oder in der Klinik. Und wenn es ums Entwischen geht, werden die Patienten oft erfinderisch und bisweilen rabiat. Und manche kommen weit. Denn aufgrund des erkrankungsspezifischen Bewegungsdrangs laufen mache Patienten bis zu unglaubliche 40 Kilometer täglich!
Gerade zu Beginn eines stationären Aufenthalts in der Klinik drängen demente Patienten erfahrungsgemäß stark weg von der Station. Es ist im Kontext der Erkrankung nachvollziehbar, dass die neue Umgebung auf die Patienten fremd wirkt: Sie wollen schlichtweg nachhause. Sie suchen dabei gezielt nach Ausgängen, rütteln an Türen oder versuchen, durch den Türspalt zu schlüpfen, sobald die Türen geöffnet werden, um jemanden rein- oder rauszulassen. Entwischen die Patienten, irren sie planlos „draußen“ – ob im Heimatort oder auf dem Krankenhausgelände – herum. Das birgt ein erhebliches Selbstgefährdungsrisiko für diese Patienten, welches es nach Möglichkeit zu vermeiden gilt.
In der Klinik kommt noch ein „Verstärker“ hinzu: Auf Station 23B sind viele Patienten mit derselben Diagnose untergebracht. Oft stehen gleich mehrere angespannte und gereizte Personen im Eingangsbereich der Station, die sich gegenseitig noch weiter in ihrer Aggression bestärken. Sie „schaukeln“ sich beim Anblick von Türen – offenen wie geschlossenen – gegenseitig emotional hoch. Die Pflege hat dann alle Hände voll zu tun, die Patienten zu beruhigen, sie wegzubringen und ihre Aufmerksamkeit auf andere Aktionen zu lenken.
Bei einer Hospitation in einem offen geführten Altenheim fiel einer Pflegekraft der Station 23B auf, dass man dort die Ausgangstüren mit speziellen Motivfolien verkleidet hatte: Mit Blumen, Tieren oder Landschaften zum Beispiel. Ursächlich dafür war ein unruhiger, völlig desorientierter dementer Patient, der bis zu 40 Mal täglich die Station verließ. Nachdem die Folien auf die Türen geklebt waren, erkannte der Betroffene die Ausgangstür schlicht nicht mehr als Ausgang. Stattdessen ging er nur noch auf Station und im angegliederten Stationsgarten umher.
Doch warum funktionieren bunte Bilder auf den Türen? Bei einer Demenz kommt es – zusätzlich zu den natürlichen Alterserscheinungen wie Abnahme der Sehschärfe und zunehmende Einschränkung des Gesichtsfeldes – zu visuellen Wahrnehmungsstörungen. So erkennen Menschen mit Demenz im Verlauf der Erkrankung die „verkleideten“ Türen häufig nicht mehr als solche, sondern sehen in erster Linie das abgebildete Motiv.
Wir hatten auf Station und auch mit dem Altenheim, das uns auf die Idee der Türverkleidungen brachte, intensiven Austausch: Ist es in Ordnung, die Patienten mit den getarnten Türen zu täuschen? Ist es ethisch vertretbar? Wie sehen Pro und Contra aus? In einem mehrmonatigen Piloten haben wir das Verhalten unserer Patienten dann genau beobachtet. Wenn unsere Patienten auf das „Fehlen“ von Türen negativ reagiert hätten – etwa mit Angst, Aggression oder gesteigerter Desorientierung – hätten wir das Thema ad acta gelegt. Aber nachdem die Folien an den Eingangstüren der 23B angebracht waren, zeigte sich im Verlauf der folgenden Monate eine durchwegs positive Bilanz. Die Türverkleidungen sind nicht nur optisch ansprechend (wir haben uns für Frontansichten alter Bauernhäuser entschieden). Sie entspannen die Atmosphäre im beschützten Setting der Station spürbar. Die Patienten halten sich deutlich weniger im Eingangsbereich auf. Auch das frustrierende Rütteln an den Türen hat deutlich abgenommen. Sie wirken ruhiger und ausgeglichener. Und dem Team am Arbeitsplatz 23B tun die „schönen Aussichten“ auch gut.
Autor:innen: Marco Kraus ist stellvertretender Stationsleiter, Christina Laumer Fachpflegerin für Psychiatrie auf der Demenzstation des medbo Zentrums für Altersmedizin am Bezirksklinikum Regensburg
Bildquelle: Renate Neuhierl/medbo